: Die ungeliebte Ostschule
Immer mehr Hauptstädter ziehen ins Brandenburger Umland, doch viele schicken ihre Kinder lieber weiterhin in Berlin zur Schule. Oft stecken nur falsche Vorurteile dahinter ■ Von Plutonia Plarre
Wenn sie über ihre neue Heimat spricht, bekommt die 36jährige Amerikanerin Amy G. leuchtende Augen. „Die Kinder wachsen im Grünen auf, die Nachbarn sind toll, und das Leben ist viel billiger als in der Großstadt.“
Die gebürtige New Yorkerin lebt seit gut zehn Jahren in Deutschland, die meiste Zeit davon in Berlin. Vor einem Jahr hat sie der Hauptstadt den Rücken gekehrt und ist 15 Kilometer nordwestwärts in den kleinen brandenburgischen Ort Brieselang gezogen. Dort lebt die Klavierlehrerin nun und ist rundrum zufrieden. Ihr Mann, Trompeter bei der Rias Big Band, pendelt nach Berlin. Die älteste Tochter geht in die erste Klasse der Grundschule in Brieselang, die zweite wird im Sommer eingeschult. Daß die Kinder in Brandenburg zur Schule gehen, ist für Amy G. keine Frage: „Die Schule gefällt mir richtig gut.“
So wie der Amerikanern geht es nicht allen Neubrandenburgern. Immer mehr Berliner kehren der Hauptstadt den Rücken und ziehen ins Umland. 1997 waren es 44.634, im vergangenen Jahr bereits 47.923. Auch viele Bonner und andere Altbundesbürger, die der Regierungsumzug nach Berlin verschlägt, wollen nicht in der Metropole wohnen und ziehen lieber hinter die Stadtgrenze ins Grüne.
Doch ihre Kinder schicken viele Ex-Berliner lieber weiterhin in der Hauptstadt zur Schule: Die Brandenburger Schulen genießen bei den Metropolenflüchtlingen keinen guten Ruf. Insbesondere gegen die Gesamtschule hegen viele Eltern das Vorurteil, daß ihre Kinder dort nicht genug gefördert würden.
Die Gesamtschule als Regelschule ist eine Brandenburger Besonderheit. In der Bildungseinrichtung kann ein Abschluß für alle drei Bildungsgänge erworben werden, für die es in anderen Bundesländern differenzierte Schultypen gibt: der Hauptschulabschluß, die mittlere Reife und das Abitur.
5.676 Schüler schickt Brandenburg derzeit auf Berliner Schulen. Das sind 30 Prozent mehr als im Vorjahr. Umgekehrt fahren 1.617 Jungen und Mädchen jeden Tag zum Unterricht ins Umland. Das krasse Mißverhältnis muß Brandenburg, so haben es die beiden Bundesländer vertraglich geregelt, mit jährlich sieben Millionen Mark bezahlen. Und die Zahlen steigen weiter an. Dabei sind es nur die Härtefälle, die im anderen Bundesland die Schule besuchen dürfen: Gesundheitliche Gründe und nachweisliche schulische Nachteile – also das Fehlen von Sprachzügen etwa – müssen vorliegen, um entgegen der Schulpflicht in einem anderen Bundesland pauken zu dürfen. Das gilt für weiterführende Schulen. Die Grundschule muß ohnehin am Wohnort besucht werden.
Die 8.000 Seelen zählende Gemeinde Brieselang im sogenannten Speckgürtel von Berlin wird von Zuzüglern aus den alten Bundesländern regelrecht überrannt. Seit der Wende hat sich die Einwohnerzahl fast verdoppelt. Von Brieselang fühlen sich vor allem junge Familien mit Kindern angezogen. Die Neubaugebiete am Ortsrand erinnern an dänische Ferienhaussiedlungen.
Wie anderswo im Speckgürtel hat die Invasion dazu geführt, daß die Schulen und Kitas in Brieselang förmlich aus den Nähten platzen. Die einzige Grundschule des Ortes, die vor zwei Jahren durch einen Neubau erweitert worden war, ist für die 728 schulpflichtigen Kinder schon wieder zu klein. Weil die Bevölkerung weiter zunimmt – pro Monat werden in Brieselang 30 Bauanträge zugelassen –, ist jetzt eine zweite Grundschule geplant.
Auch die Gesamtschule des Ortes befindet sich am Rand ihrer Kapazitäten. Nach den großen Ferien wird es statt zwei erstmals vier siebente Klassen geben. Dabei ist es hier wie überall: Die Gesamtschule ist für viele Neubrieselanger die zweite Wahl. „Die Eltern haben oftmals große Berührungsängste, weil sie das brandenburgische Bildungssystem für unzureichend halten“, sagt die Leiterin der Schulverwaltung, Frau Ramisch. Die Folge: Viele ältere Kinder von Zuzüglern aus Berlin gehen weiter in der Hauptstadt zur Schule.
Ihre vier Kinder in Berlin auf die Schule schicken? Für die 39jährige Anke V. wäre dies eine undenkbare Vorstellung. Die Familie zog vor einem Jahr von Fürstenfeldbruck bei München nach Brieselang, weil der Mann zu Siemens in Berlin versetzt worden war. „Die Qualität der Berliner Schulen ist nicht so gut wie die der alten Ostschulen“, ist Anke V. überzeugt. Mit alten Ostschulen meint sie allerdings nur das Gymnasium, denn auf eine Brandenburger Gesamtschule will auch sie ihre Kinder nicht schicken. „Auf die Gesamtschule gehen vor allem Kinder, die wenig motiviert und wenig begabt sind. Die anderen gehen zur Realschule oder aufs Gymnasium“, glaubt sie.
So wie Anke V. denken viele Neubrandenburger. Die Gymnasien in den Einzugsgebieten im Speckgürtel sind total überlaufen, während im Hinterland immer mehr Schulen aufgrund des Geburtenmangels schließen müssen. Weil er keinen Platz auf einem staatlichen Gymnasium fand, besucht der älteste Sohn der Familie V. nun ein privates Gymnasium in Nauen.
Anke V. ist mit der Schule zwar sehr zufrieden, betont aber, daß der Bildungsstandard in Bayern höher sei. „Dort sind die gleichen Klassenstufen einfach weiter. Hier habe ich manchmal Angst, daß die Kinder wegen ihrer guten Noten unrealistisch werden.“
Die Vorurteile gegen die Gesamtschule sind dem Leiter der Brieselanger Gesamtschule, Christof Kirschner, durchaus bekannt. Immer wieder versucht er Bonner Eltern am Telefon davon zu überzeugen, daß ihr Kind auch das Abitur machen kann, wenn es in der siebenten Klasse nicht aufs Gymnasium, sondern auf die Gesamtschule geht. „Die Schüler selbst haben damit viel weniger Probleme. Sie integrieren sich gut“, weiß Kirschner.
So gut, daß die Lehrer kaum noch sagen können, wer aus dem ehemaligen Ost- und wer aus dem Westteil kommt. „Äußerlich gibt es keine Unterschiede“, sagt die junge Kunstlehrerin der Gesamtschule, Gabriele Sagasser, freischaffende Malerin und waschechte „Wessi“, die in Berlin-Kreuzberg zu Hause ist und jeden Tag drei Stunden Fahrzeit hat. Daß sie trotzdem merkt, in welchem Teil Deutschlands ihre Schüler groß geworden sind, hat mit ihrem Kunstverständnis zu tun. „Die Westler haben eher Zugang zu abstrakter Kunst und lassen mehr zu. Die Ostler haben kreatives, selbständiges Arbeiten kaum gelernt.“
Ihre Kollegin Birgit Diener, die aus Bremen kommt und in Brieselang Deutsch und Englisch lehrt, stellt immer wieder fest, daß in den neuen Bundesländern sozialisierte Schüler wesentliche größere Probleme haben, im Unterricht mit „Freiräumen“ umzugehen. „Sie verlieren ganz schnell die Orientierung und schlagen über die Stränge.“ Im Gegensatz zu einer Schule in Schwerin, in der Diener kurze Zeit unterrichtet hat, empfindet sie das Klima in der Brieselanger Gesamtschule aber als sehr angenehm. „In Schwerin herrschte ein furchtbarer Militärton, der Schulleiter schaltete und waltete wie ein Kontrollapparat zu DDR Zeiten.“
Den Altbrieselanger Jugendlichen fällt zu den Neubrieselanger Jugendlichen als erstes die „extrem große Klappe“ der Westberliner ein und als zweites deren „Markenklamotten“. Bei den Freundschaften, so wird versichert, spiele die Herkunft aber keine Rolle. Daß es für Neue schwer ist, in bestehende Cliquen hineinzukommen, ist nicht spezifisch für Brieselang. Die Kleinen in der Grundschule haben schon fast vergessen, wo sie geboren worden sind. Der zehnjährige Max, der von Berlin-Wedding nach Brieselang umgezogen ist, erinnert sich nur noch vage daran, daß es in Berlin „gute Spielplätze“, aber auch „viel Lärm“ gab. Seine Freunde Mike, Tobias und Hagen, sämtlich gebürtige Brieselanger, wissen aus eigener Anschauung oder vom Hörensagen, daß in Berlin „alles vollgesprüht“ sei, „überall Hundehaufen herumliegen“ und „lauter Türken mit Eisenketten zur Schule kommen“.
Die Umgewöhnung fällt nicht allen so leicht wie der Amerikanerin Amy G. Mit leisem Schauder erinnert sich ein Vater daran, daß seine Kinder nach dem Umzug plötzlich den in Ost-Kitas üblichen Mittagsschlaf machen und der Erzieherin beim Guten-Tag- und Auf-Wiedersehen-Sagen die Hand geben sollten. Einer Mutter mißfällt, daß die Kinder in der Grundschule schon in der ersten Klasse „so streng herangenommen werden“. Befremdet hat sie auch, daß jedes Kind am 1. Juni, dem Internationalen Kindertag, in der Schule ein kleines Geschenk bekam. „Das ist im Westen nie gefeiert worden.“
Amtsdirektor Richard Heynisch kennt diese Animositäten. „In Brieselang prallen extreme Kulturen aufeinander“, sagt er. Aber er ist trotzdem sehr optimistisch, was das Zusammenwachsen der Ostler und Westler angeht. Seine große Hoffnung ist die Jugend. Darum investiert er auch 50 Prozent des zur Verfügung stehenden Gemeindeetats in die Schule. „Die neue Gemeinschaftskultur entsteht in der Schule“, steht für Heynisch fest. „Auf der Straße können sich die Einwohner aus dem Wege gehen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen