: „Kindererziehung wie Kälberzucht besteuert“
■ Die bestehenden Freibeträge für Kinder sind ungerecht, meint Steuerökonom Dieter Schneider
Während selbst in Bayern (laut eines gestern vorgestellten Berichts der Landesregierung über das Jahr 1996) 50.000 Familien auf Sozialhilfe angewiesen sind, geht in Bonn der Streit um die Familienentlastung munter weiter. Pläne aus der Regierungskoalition sehen vor, ein steuerliches Existenzminimum für Kinder einzuführen. Das Justizministerium hat verfassungsrechtliche Bedenken erhoben und plädiert für die Einführung normaler Steuerfreibeträge. Das Verfassungsgericht hatte dem Gesetzgeber vorgeschrieben, bis zum 1. Januar 2000 Familien mit Kindern steuerlich zu entlasten.
Finanzminister Eichel kündigte gestern an, das Kindergeld um 20 Mark zu erhöhen. Welche Form der Steuerabschreibung Familien erhalten, blieb weiter unklar – obwohl sich nun auch die SPD-Fraktion für eine Form des Kinder-Existenzminimums stark macht. Auch führende Steuerökonomen haben sich nun energisch dafür ausgesprochen. Dazu zählen der Steuerexperte Theodor Siegel von der Humboldt-Uni Berlin und der Vorsitzende der Steuerreform-Kommission der alten Regierung, Peter Bareis. Die taz hat mit dem Papst der betriebswirtschaftlichen Steuerlehre, Dieter Schneider von der Ruhr-Uni Bochum, gesprochen.
taz: Wie funktioniert das steuerliche Existenzminimum für Kinder?
Dieter Schneider: Es würde bedeuten, daß dem Staat jedes Kind gleich viel wert ist. Nehmen Sie eine Familie mit einem Kind. Die Eltern müßten, egal ob sie Spitzenverdiener sind oder nur ein geringes Einkommen haben, für die ersten 16.500 Mark ihres Einkommens keine Steuern bezahlen. Das bringt für alle die gleiche steuerliche Entlastung.
Trotzdem ist das Justizministerium gegen das Existenzminimum. Warum?
Die meinen, das sei mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Die Juristen haben sich eben für die millionärsfreundliche Variante entschieden.
Wie muß man das verstehen?
Die Juristen bestehen darauf, daß die Familien durch ganz normale Freibeträge entlastet werden – und die bevorzugen hohe Einkommen. Nehmen sie einen Freibetrag von 10.000 Mark. Der Großverdiener zieht daraus die höchste Steuerermäßigung, weil der Freibetrag ihn beim Spitzensteuersatz von 53 Prozent (plus Solidaritätszuschlag und Kirchensteuer) um rund 5.800 Mark entlastet. Die kleinen Leute haben zwar auch 10.000 Mark Freibetrag, bei ihrem Steuersatz von rund 24 Prozent (plus Solidaritätszuschlag und Kirchensteuer) ist die Entlastungswirkung mit rund 2.700 Mark aber viel viel geringer.
Laut Verfassungsgericht ist das wegen der sogenannten horizontalen Steuergerechtigkeit nötig.
Ja, aber das ist eine sehr eigentümliche Gerechtigkeit: Jeder hat zwar den gleichen Freibetrag – aber manche haben mehr davon. Ökonomisch und moralisch ist diese Argumentation nicht nachvollziehbar. Denn sie macht praktisch keinen Unterschied zwischen Kälberaufzucht und Kindererziehung. Kinder werden gedanklich auf die gleiche Stufe gestellt wie die Betriebsausgaben eines Bauern für Kälber.
Woher stammt diese Betrachtungsweise?
Die hat der Finanzwissenschaftler Adolf Wagner erfunden. Danach ist das Markteinkommen nur abzüglich jener Ausgaben zu versteuern, die man zur Erhaltung des standesgemäßen Umgangs braucht. Mit anderen Worten: Beim Millionär müssen aus Sitte rührende unvermeidbare Ausgaben auch zu einer höheren steuerlichen Entlastung führen.
Eine antiquierte Auffassung.
Das war der Denkstil der meisten preußischen Beamten. Die herrschende Meinung unter den Juristen argumentiert aber heute noch so, daß das Millionärskind stärker entlastet werden muß als das einer Putzfrau. Ich meine, wenn eine Verfasssung nur so ausgelegt werden kann, dann muß man sie eben ändern. Im Grundgesetz steht das übrigens gar nicht drin, das hat die Rechtsprechung entwickelt.
Was verstehen Sie unter Steuergerechtigkeit?
Daß das Kind einer Putzfrau auch steuerlich die gleichen Startchancen haben muß wie das eines Großverdieners. Wenn es anders ist, zementiert man das gesellschaftliche Oben und Unten.
Interview: Christian Füller
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