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Kalte Herzen, kalte Heimat

Jahrzehntelang standen sich Linke und Vertriebene in erbitterter Feindschaft gegenüber. Den Linken war das Vertreibungsschicksal der Deutschen aus dem Osten gleichgültig, wenn sie es nicht sogar als gerechte Strafe für die Verbrechen der Nazis ansahen. Jetzt beginnen die erstarrten Fronten aufzuweichen. In Ostmitteleuropa haben sich demokratische Gesellschaften gegründet, die Massenvertreibungen im ehemaligen Jugoslawien führten auch bei der Linken zu einer Sensibilisierung Flüctenden und Vertriebeen gegenüber. Ein Versuch einer Annäherung  ■ von Christian Semler

Mochten alte Gewißheiten zusammenstürzen, mochten sich eherne Fronten verkehren, eine politische Konstante schien bis vor kurzem völlig unverrückbar: die eisige wechselseitige Ablehnung der organisierten Vertriebenen und der mehr oder weniger organisierten Linken. Die Geschichte dieser Feindschaft ist so alt wie die Bundesrepublik.

Ein intellektuelles und emotionales Knäuel, das unauflösbar erscheint, weil der Kern der jeweiligen Identität auf dem Spiel steht. Die Linken warfen den Vertriebenen vor, sich stur auf die eigene Leidensgeschichte zu fixieren, alle Fragen abzuwehren, was denn der Vertreibung aus der alten Heimat vorausging, also die Ursache von Flucht und Vertreibung, die Vernichtungspolitik der Nazis, auszublenden. Dadurch würde jede Aussöhnung mit den Völkern Osteuropas blokkiert, eine friedliche Überwindung der Blockteilung Europas unmöglich.

Die Vertriebenen warfen den Linken vor, Menschenrechte mit zweierlei Maß zu messen. Was sie anderen Völkerschaften zubilligten, würden die Linken den Angehörigen des eigenen Volkes verweigern. So sehr sie Unrecht in aller Welt anklagten, bei den vertriebenen Ostdeutschen zeigten sie ein Herz aus Stein.

Jede Politik der Verständigung mit dem Osten, die das an ihnen begangene Unrecht nicht heilte, sei im Kern verwerflich, denn sie verrate die menschenrechtlichen Grundsätze, unter denen die Bundesrepublik angetreten sei. Und sie sei gefährlich, weil sie Vertreibung als Mittel der Politik legitimiere.

Eine Zeitlang schien es so, als ob zwar nicht diese Feindschaft, aber ihr Gegenstand verschwinden würde. Im Gefolge der deutschen Einheit wurden Verträge abgeschlossen, die die Nachkriegsgrenzen endgültig anerkannten. Das „Recht auf Heimat“ schrumpfte bei den Vertriebenenverbänden auf Entschädigungsforderungen an die Adressen der neuen, demokratischen Regierungen Tschechiens und Polens zusammen.

Das entsprechende Erpressungsszenario: Mitgliedschaft in der Europäischen Union nur bei Anerkennung der Restitutionsansprüche, entnervte und verärgerte nicht nur das linke Spektrum des deutschen Publikums. Trotz Unterstützung der bayerischen Schutzmacht traten die Vertriebenen den Weg in die politische Marginalisierung an. Dann aber kehrten im ehemaligen Jugoslawien Mord und Vertreibung nach Europa zurück. So wurde das Nachkriegsschicksal der Vertriebenen erneut zum Gegenstand öffentlichen Nachdenkens – diesmal auch für die Linken.

Es begann die Zeit kritischer Selbstbefragung. Eine der ersten, die dieser veränderten Stimmungslage Ausdruck verlieh, war Antje Vollmer, vormals, in den siebziger Jahren, der radikalen, maoistischen Linken zugehörig. Sie hatte es sich, als Nichtvertriebenenkind, zur Aufgabe gemacht, für die Verbesserung des tschechisch-deutschen Verhältnisses zu arbeiten und den Alleinvertretungsanspruch der Sudetendeutschen aufzubrechen. Im Herbst 1995 hielt sie an der Prager Karlsuniversität eine ehrliche Rede, in der sie der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft vorhielt: „Für ihr persönlich schweres Schicksal, das sie erfahren hatten, trafen die Vertriebenen in unserer Gesellschaft auf ein mitleidloses Desinteresse. So blieb ein Teil von ihnen den Tschechen gegenüber unversöhnt, weil sie in Deutschland, bei uns, nicht ganz ankamen und nicht ganz aufgenommen wurden. Es gab bei uns lange ein unausgesprochenes nationales Strafbedürfnis, besonders in den Reihen der politischen Linken und der Studentenbewegung, zu denen ich gehörte. Irgend jemand, so dachten wir, müßte doch büßen für die unfaßbaren deutschen Verbrechen. Das sei so schon in Ordnung.“

Ähnlich sieht es Bascha Mika, Chefredakteurin der taz und Kind Oppelner Schlesier. Sie pointiert die Einstellung der Linken, die auch ihre eigene war, so: „Die Linken waren immer stark im Umgang mit politischen Projekten, aber schwach im Umgang mit Menschen.“ Damals bekämpfte sie die revanchistischen Parolen, das schwache Gedächtnis gegenüber der eigenen Rolle während der Nazizeit und die fortwirkenden starken rassistischen Vorurteile gegenüber den slawischen Nachbarn. Diese Haltung erscheint ihr nach wie vor berechtigt. Aber heute beklagt sie die Unfähigkeit der damaligen Linken, bei den Vertriebenen etwas vom Schmerz des individuellen Verlusts zu verstehen.

Was hat sie, Bascha Mika, damals beiseite geschoben? Den Zusammenbruch einer besonderen, eben der oberschlesischen Lebensweise, die etwas unbeschwerter, etwas großzügiger war als in anderen Teilen Deutschlands; die Feiern mit Freunden; drei Generationen unterm Dach des Hauses, das der Großvater selbst gebaut hatte. Der Garten, die Landschaft, die Küche. Ein nicht allzu bigotter Katholizismus. Und nicht zuletzt das Kuddelmuddel, das Kreuz und Quer der Verbindungen zu den oberschlesischen Polen. Das war die verlorene Heimat, und das meinten die Alten, wenn sie von Schlesien sprachen.

Immer gab es diese Inkongruenz zwischen der Trauer um eine verlorenen Lebenswelt und den politischen Forderungen der Vertriebenenverbände. Aber den Linken blieb allzu lange verborgen, daß in der Parole „Recht auf Heimat“ auch legitime Gefühle mitschwangen, die von den Funktionären für eine knallharte Politik der Konfrontation instrumentalisiert wurden. Dabei kannten sie Ernst Bloch und seine Warnung, den Nazis das Terrain der Heimat zu überlassen, kannten Kurt Tucholskys emphatische Liebeserklärung an die deutschen Landschaften am Ende seiner Satire „Deutschland, Deutschland über alles“.

Aber der Druck der politischen Leidenschaften war zu groß. Zu groß die Versuchung, Flucht und Vertreibung von zwölf Millionen Menschen, aber auch die Teilung Deutschlands bis hin zum Bau der Mauer als historische Quittung für die Naziverbrechen nicht nur zu verstehen, sondern auch zu rechtfertigen. Daß die Vertriebenen von den Linken so wenig verstanden wurden, daß ihnen so wenig Mitgefühl entgegenschlug, lag nicht nur in der Traditionslinie der linken Bewegungen begründet. Diese Verweigerung hatte ihre Wurzeln auch in der bundesdeutschen Nachkriegszeit.

Wir wissen, daß die Vertriebenen bei ihrer Ankunft in den Besatzungszonen von der Bevölkerung mit Mißgunst, oft auch mit Verachtung empfangen wurden. In den Dörfern und Kleinstädten, in die es sie verschlug, waren sie bis Ende der fünfziger Jahre Menschen zweiter Klasse, mußten sich mit den elendesten Jobs und den miesesten Wohnverhältnissen begnügen. Oft nannte man sie mit der Nationalitätsbezeichnung derer, die sie vertrieben hatten, Polacken beispielsweise.

Zwar gelang es der westdeutschen Regierung, die ökonomische Integration anzukurbeln – und dem rechten Radikalismus unter den Vertriebenen den Boden zu entziehen. Aber auch später, als der wirtschaftliche Aufschwung schrittweise die Lage der Flüchtlinge und Vertriebenen verbesserte, hinkte die soziale Integration hinterher. Paradoxerweise entzog die erfolgreiche ökonomische Lobbytätigkeit der Vertriebenenverbände ihrem politischen Programm stetig die Grundlage. Die Rhetorik blieb revanchistisch, die Praxis der Mitglieder aufs Fortkommen in der Bundesrepublik gerichtet, die doch nur als Wartesaal hatte dienen sollen.

Dieser Ambivalenz entzog sich ein Teil der Vertriebenen durch Bruch mit der eigenen Vergangenheit, durch Distanz zu den Vertriebenenverbänden, durch Anpassung an die neue Heimat, durch Schweigen. Während ein anderer Teil sich an den offiziellen Parolen festbiß, fühlend, daß die Forderung nach dem Deutschland „in den Grenzen von 1937“ zunehmend an Realitätstüchtigkeit einbüßte.

Den Linken blieb damals nicht verborgen, daß nur ein geringer Prozentsatz selbst der Vertriebenenfunktionäre tatsächlich in die alte Heimat zurückgegangen wäre, wenn sich ihnen die Chance geboten hätte. Viele der Linken spürten die Hohlheit des Anspruchs, den Widerspruch zwischen sturem Festhalten an den Rechtspositionen und der tatsächlichen Lebenspraxis. Ihnen war das Auftreten der Vertriebenen nicht nur politisch zuwider, sondern auch kulturell fremd. Vergessen wir nicht: Sie, die linken Studenten, waren Fleisch vom Fleisch der Nachkriegsgesellschaft. Und sie waren, trotz ihres oftmals forciert linkstraditionalistischen Gepränges, Motoren des demokratischen Verwestlichungsprozesses. Sie hatten keine Ahnung und folglich keine Beziehung zum Osten Europas, und zwar weder zum slawischen noch zum vormals deutschen.

Und die Kinder der Vertriebenen, die gegen ihre Eltern revoltierten und sich der Linken anschlossen, zahlten freudig ihr Eintrittsgeld. Weil die Linken bis tief in die Sozialdemokratie hinein die Vertriebenenfrage strikt als Problem des Kampfs gegen die entspannungsfeindliche Rechte ansahen, waren sie auch wehrlos gegenüber der Propaganda, die seitens der realsozialistische Regime gegen den „Revanchismus“ lanciert wurde. Sie übernahmen selbst hirnlose Konstruktionen wie die vom immerwährenden Drang der Deutschen nach Osten.

Ihre historischen Strafphantasien machte sie zu Verbündeten von Regimen, die die Angst vor dem deutschen Revanchismus kalt für systemstabilisierende, nationalistische Demagogie nutzten – eine Politik, die die Linken im eigenen Land entschlossen bekämpften. Diese freiwillige Gefangenschaft im Denken zeitigte während der Zeit der polnischen Erneuerungsbewegung 1980/81 fatale Folgen. Das Gros der Linken sah sich außerstande, den Freiheitskampf der Gewerkschaft Solidarnosc zu unterstützen, teils weil deren Anhänger Ronald Reagan anhimmelten, teils aber auch, weil sie gegen die Revanchismuslitanei der Realsozialisten Front machten, ja sogar die deutsche Einheit ernsthaft in Betracht zogen.

Es war dies die Zeit, in der eine kleine Minderheit der Linken in der Bundesrepublik Europas Osten neu entdeckte, Freundschaft schloß mit den osteuropäischen Demokraten, nach Lösungen suchte, um die Blockteilung Europas zu überwinden. Eigentlich hätte es auch die Zeit sein müssen für eine ehrliche Auseinandersetzung mit den Vertriebenen, für die Debatte über eine mögliche neue konstruktive Rolle, wenn der Osten „nach Europa heimkehren“ würde. Damals witzelte der tschechische Oppositionspolitiker Jaroslav Sabata, „die Sudetendeutschen werden die große Lobby der Tschechen in Deutschland sein. Sie wissen es nur noch nicht.“ In jenen achtziger Jahren, der „zweiten Eiszeit“ bis zu den Reformen Michail Gorbatschows, entstanden die Netzwerke der ost-westlichen Zusammenarbeit, oft unter Mitwirkung religiös oder sozialdemokratisch inspirierter Vertriebener. In Deutschland aber herrschte zwischen den Vertriebenenverbänden und der Linken weiterhin Eiszeit.

Das ändert sich jetzt, aber die Ursachen liegen außerhalb Deutschlands. Die Massenvertreibungen zuerst in Bosnien, dann im Kosova, haben die Emotionen aufgerührt, für das Schicksal der Flüchtlinge neue Sensibilität in Deutschland wie in Osteuropa geweckt. In dem Maße, in dem sich in Ostmitteleuropa die Demokratie konsolidierte, wurde dort das Schweigen über das Schicksal der deutschen Vertriebenen durchbrochen. Heftiger Streit entzündete sich am „Warum“, vor allem aber am „Wie“ der Vertreibung. Selbst die Existenz der Lager, in denen nach 1945 Deutsche in Polen oft unmenschlich behandelt wurden, geriet ins Blickfeld. Nicht nur das Weltbild der Vertriebenen, auch das der Linken wurde durch die „Selbstbefragung“ in Polen wie in Tschechien herausgefordert.

Helga Hirsch, eine Osteuropaexpertin mit studentenbewegter Biografie, suchte ehemalige Lagerinsassinnen auf und veröffentlichte einen engagierten Bericht. Der polnisch-deutsche Journalistenclub „Unter Stereotypen“, ebenfalls von einer Linken initiiert, organisierte Seminare zur Vertreibung und publizierte deren Ergebnisse in der Zeitschrift Trans-Odra.

Dort kann man auch den bewegenden Artikel nachlesen, den der Journalist Wojciech Pieciak über den Lehrer Gerhard Gruschka veröffentlicht hat, der 1945 (als Kind) Insasse des berüchtigten Lagers Zgoda gewesen war, einem ursprünglich von den Deutschen erbauten, zum Auschwitzkomplex gehörenden KZ. Gruschka sorgte dafür, daß in das erhalten gebliebene Eingangstor des Lagers eine Erinnerungstafel eingelassen wurde, dann sammelte er Geld für die Kuppel der nahe gelegenen Kirche, organisierte eine Städtepartnerschaft, lehrte nach seiner Pensionierung Deutsch in der näheren Umgebung. Nun will er seinen Lebensabend in Schlesien verbringen. Er hat sein „Recht auf Heimat“ auf eine Weise wahrgenommen, mit der sich Linke – endlich – identifizieren können.

Es ist nun an den organisierten Vertriebenen, ihre Wahl zu treffen.

Christian Semler, 60, Autor der taz, ist gebürtiger Berliner und seit mehr als zwei Jahrzehnten mit osteuropäischen Fragen beschäftigt.

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