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Ende einer Butterfahrt

Das Leben nach Duty-free: Die Rentner sind in der Einkaufs- und Freizeitkrise, die Seewirtschaft studiert Zollparagraphen aus dem letzten Jahrhundert  ■ Aus Kiel Heike Haarhoff

Sein heiseres Flüstern ist kaum hörbar. Zögerlich wagt er sich ein paar Schritte näher an die beiden laut schwatzenden Frauen am Kieler Hafenanleger heran. Bei jeder Bewegung flattert die abgewetzte graue Hose wie eine brüchige Gardine um seine Knie. Die Stimme zittert, als der alte Mann seine Frage wiederholt: „Kaufen Sie?“ Die Frauen mustern ihn wie einen, der ihnen soeben einen sehr unsittlichen Antrag gemacht hat. Entsprechend entrüstet fällt die Antwort aus: „Kaufen wir, kaufen wir?! Natürlich kaufen wir!“

Der Mann zieht weiter, immer entlang der bevölkerten Kaimauer. Inmitten der Menschenmassen im Rentenalter, die da im Fünf-Minuten-Takt aus klimatisierten Reisebussen aus kleinen schleswig-holsteinischen Dörfern klettern, hält er Ausschau nach Passagieren, die so aussehen, als würden sie ihm, dem zittrigen Schnorrer, ihre wertvollen quadratischen Papierscheine schenken. Die haben die Tagesausflügler zusammen mit ihrem Ticket für die Bootsfahrt auf der „MS Fair Lady“ von Kiel zur dänischen Insel Aero erhalten. Schnipsel, die zum Kauf von zollfreier Schokolade, Tabak und Spirituosen im Duty-free-Shop an Bord der „Fair Lady“ berechtigen – in begrenzten Mengen. Höchstens eine Stange Zigaretten sowie einen Liter hochprozentigen Alkohol pro Person gibt es. Sofern es einem gelingt, anderen Fahrgästen deren Marken abzuhandeln, gibt es mehr. Der Mann hat es schwer. „Kaufen Sie?“ – „Sicher.“

Zumal die Tage der zollfreien Hamsterkäufe auf offener See gezählt sind. Am Abend des 30. Juni ist Schicht für Duty-free im grenzenlosen Europa. „An dem Tag“, ein rotwangiger Herr in der Schlange schwankt zwischen Drohung und Wehmut, „räumen wir diesen Brüsseler Schweinen die Regale aus und trinken das Zeug noch an Bord aus“.

Plötzlich hat der Herr es eilig. Die „MS Fair Lady“ hat ihre Gangway ausgefahren. Und als drohe der Kapitän, Nachzügler in der Kieler Förde zu ertränken, boxen, drängeln, stoßen, fluchen sich mehr als 200 Menschen im Pulk zum Eingang. Schließlich geht es um die besten Plätze, also diejenigen nahe des Duty-free-Shops. Der alte Mann in der grauen Hose feilscht immer noch um die Bezugsscheine, „ich zahle Ihnen auch den Preis für Ihre Fahrkarte zurück“, bietet er an. Fünf Mark kostet die, fünf Mark für fünfeinhalb Stunden Fahrt. Wer schon im voraus beim Busunternehmen gebucht hat, zahlt nur drei Mark.

Viele der Mitreisenden kennen sich von vergangenen Ausfahrten zu Wasser. „Doch ja“, sagt eine Frau im karierten Rock und winddichten Anorak, „so zwei-, dreimal im Monat fahren wir schon mit“. Und in dieser letzten Juniwoche will sie ihren persönlichen Rekord aufstellen und versuchen, „am liebsten täglich“ dabei zu sein. „Man kann sogar zweimal am Tag“, schwärmt sie. Morgens Kiel-Aero und zurück, nachmittags noch einmal das gleiche. Was man da alles günstig kaufen kann! Und dann das leckere „Stammessen“, das es immer gibt. Schweineschnitzel mit Schmalzkartoffeln für 6,50 Mark. Oder Erbsensuppe, 4 Mark. Und dann die hübschen Preise, die es bei der regelmäßigen Tombola zu gewinnen gibt, blau-gelbe Plüschrobben etwa zugunsten eines Vereins zum Schutz der Ostsee. Als Rentnerin hat sie doch die Zeit. Und wo sie doch noch so schrecklich viel besorgen muß, für die Kinder, die Enkel, die Nachbarn, alle berufstätig, und die alle noch schnell von den günstigen Angeboten profitieren sollen. So als gehe nach dem 30. Juni plötzlich und unerwartet die Welt unter.

Das Ende von Duty-free hatten die europäischen Finanzminister bereits 1991 beschlossen. Nach der Abschaffung der Zölle in der Gemeinschaft, so ihre Argumentation, ergäben Einrichtungen zum zoll- und steuerfreien Verkauf wie an Flughäfen und auf den sogennanten Butterschiffen keinen Sinn mehr. Eine achtjährige Galgenfrist bis Mitte 1999 wurde damals vereinbart. Die Häfen, die Händler und die Reiseanbieter sollten sie nutzen, ihre Unternehmen von der milliardenschweren EU-subventionierten auf eine normale Geschäftstätigkeit umzustellen. Doch auf anfängliches Protestgeheul folgte wenig. Ohne die fetten Gewinne aus dem zollfreien Handel, zeterte es in den Häfen, könne man einpacken mangels touristischer Attraktivität und Wirtschaftlichkeit. Darauf folgte eine Phase tröstlichen Schweigens. Reeder, Gewerkschaften, Hafenmanager, Duty-free- und Tourismus-Verbände sowie empörte Bundespolitiker mit Mandat in den norddeutschen Butterfahrtsregionen beruhigten sich damit, daß EU-Beschlüsse nicht zwingend ewig gültig sind.

„Es gab immer noch einen Hoffnungsschimmer“, erinnert sich Arne Breiholz, der bis heute die Geschäfte führt beim Seehafen Kiel. Er blickt auf seinen Schreibtisch am Bollhörnkai, einen Steinwurf von der Kieler Förde entfernt, als läge dort die Antwort für das Scheitern all seiner Mühen. Die Protestbriefe seines Unternehmens, das Deutschlands größten Passagierhafen betreibt, sowie die Warnschreiben befreundeter Verbände hat Breiholz sorgfältig und chronologisch geordnet aufbewahrt. Da gibt es die wortgewaltigen Drohresolutionen des mächtigen Duty-free-Verbands. Oder die bettelnden Briefe der Arbeitsgemeinschaft Schleswig-Holsteinischer Häfen an wechselnde Bundeskanzler, die mehreren hundert Jobs im Dienstleistungssektor des Kieler Hafens doch tunlichst nicht zu gefährden. Gebracht hat es wenig, abgesehen von solidarischen Worten von Gerhard Schröder sowie der einen oder anderen engagierten Studie im Auftrag der Kieler Landesregierung zur Schaffung neuer Jobs in zukunftsträchtigen Wirtschaftszweigen. Wie beispielsweise der „automatischen Krabbenschälmaschinenindustrie“ an der schleswig-holsteinischen Westküste. Der Kieler Hafen liegt an der Ostküste. „Und Sie glauben doch nicht, daß irgend jemand von uns so eine Umschulung machen würde“, die Verkäuferin an der Kasse der „Fair Lady“ gibt zwei Cognac-Flaschen einen wütenden Schubs.

Dabei hätten gerade die Politiker doch begreifen müssen. Daß man zollfreien Einkauf nicht abschaffen kann, solange weder Verbrauchs- noch Umsatzsteuern in Europa einheitlich sind. Daß der Erfolg der Ausflugsschiffahrt nur solange gesichert ist, wie die Fahrten bezahlbar sind. Daß fünf- bis sechsstündige Törns zu Spottpreisen von fünf Mark aber Subventionen zwingend notwendig machen. Daß diese nur und ausschließlich aus dem Geschäft mit der Zollfreiheit abgezweigt werden können. Weil die Händler bei diesem ihrem lukrativsten Geschäft Ware, für die sie selbst nicht eine Mark Steuern gezahlt haben, weit, aber eben nur so weit unter dem festländischen Steuersatz weiter verkaufen, wie ihr eigener Profit ein beträchtlicher bleibt. Bis zu 80 Prozent ihrer Personal- und sonstigen Fixkosten auf den Butterfahrtschiffen, gestehen Reeder, wurden durch die Gewinne von Tax-free aufgewogen.

War die Rechnung so schwer zu verstehen? Daß, wenn Duty-free nicht mehr existiert, die touristische Attraktivität und damit die Zahl der Besucher sinkt? Arne Breiholz rechnet in Kiel mit einem „Rückgang von 50 Prozent, das sind mehr als eine Million Fahrgäste im Jahr“. Bei mangelnder Auslastung aber würden sich automatisch die Preise – auch für den Frachtschiffverkehr – erhöhen. „Es wird uns und dem Hafen nicht das Rückgrat brechen“, meint er. Aber: „Der Fährverkehr wird sich zu einem großen Teil auf die Straße verlagern.“ War diese Entwicklung nicht zu verhindern? „Sie können nichts verhindern, wenn sie keine Alternative haben.“ Die Hand fährt einen großen Bogen durch die Luft. „Wir haben hier keine Berge, auf denen wir jetzt alternativ Wanderungen anbieten können.“ Ende der Diskussion. Arne Breiholz klingt jetzt fast triumphierend. Und sei es nur über die eigene Weitsicht.

Hoch oben vom Gebäude des Kieler Seehafens ist das Panorama der Kieler Förde unverstellt. Laut überlegt Arne Breiholz, an welche Betriebe er seine demnächst womöglich verwaisten Hafenanlagen vermieten könnte. Medien? Werbeagenturen? Speditionen?

Noch schrubben am „Schwedenkai“ im äußersten Zipfel des Hafens Putzkolonnen der „Stena Line“ das Sonnendeck, bevor die Fähre am Nachmittag in Richtung Göteborg ablegen wird. Ab dem Herbst aber wird die schwedische Fährgesellschaft ihre Bord-Disco schließen und ihre Läden sowieso. Ob und wann die Frequenz der täglichen Verbindungen reduziert wird, ist derzeit noch tabu als Gesprächsthema, nur soviel: „Wir rechnen mit weniger Passagieren.“

Um die Entlassungen in Grenzen zu halten, plant das Unternehmen, auf seiner zweiten Route von Schweden nach Großbritannien künftig einen Umweg über das Duty-free-sichere Drittland Norwegen zu fahren. Auch der Werkverkauf von Produkten großer Markenhersteller zu Schnäppchenpreisen nach dem Vorbild des US-amerikanischen Factory-Outlet-Shopping als Alternative zum zollfreien Ramschen ist bei einigen Reedereien im Gespräch.

Die dänische Langeland Fährgesellschaft, deren Schiffe bislang in direkter Nachbarschaft zur „Stena Line“ ablegten, hat dagegen ihrer 300köpfigen Belegschaft bereits ausnahmslos die Kündigung ausgesprochen. „Sie haben Glück, daß Sie mich erreichen“, ruft der dänische Marketingchef Axel Jorgensen heiter ins Telefon, „ich wickele hier nur noch die letzten Dinge ab, dann muß ich zum Arbeitsamt“. Die Stimme wird ernst. „Ohne die Subventionen von Duty-free müßten wir für eine PKW-Überfahrt von Kiel nach Dänemark statt bisher 25 künftig 100 Mark nehmen.“ Die Preise für reine Butterfahrten gar würden sich versechsfachen, „da fährt keiner mehr mit“.

Es gilt, steuerrechtliche Schlupflöcher zu finden. Die Förde Reederei Seetouristik in Flensburg und auch die Eckernförder Reederei Cassen Eils, der die „Fair Lady“ gehört, sind seit wenigen Tagen wieder guter Hoffnung. „Stichfahrten“ lautet die Zauberdeklaration für Schiffsfahrten, auf denen der zollfreie Warenverkauf – EU hin, EU her – auch künftig ganz legal fortgesetzt werden könnte. Denn das abgabenfreie Shoppen, so ihre Interpretation einer Ausnahmeregelung in den komplizierten Zollparagraphen aus dem vergangenen Jahrhundert, sei weiterhin erlaubt, wenn ein Schiff länger als acht Stunden unterwegs ist, ohne einen Hafen anzulaufen, und mindestens zwei der acht Stunden in Gebieten außerhalb der Hoheitsgewässer – etwa vor Helgoland – herumschippert. Die zuständige Oberfinanzdirektion in Hamburg bestreitet das. Der Ausnahmeparagraph gelte nur für Handelsschiffe, nicht jedoch für Ausflugsdampfer von Touristen.

Den dünnen Mann mit der zerschlissenen grauen Hose kümmert dieser Streit momentan wenig. Er hat es doch noch geschafft. Scheine für insgesamt vier Liter Stoff hat er nach zwei Stunden an Deck in der Hosentasche. Sehnsüchtig blickt er auf das halbleere Regal, wo die letzten Aquavitflaschen lieblos aufeinandergestapelt sind. „Füllen Sie denn nicht mehr nach?“ Sein Bekümmern ist echt.

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