: Kanonenfutter für Firmeninserate
■ Im Kaschmir-Konflikt feuert die Mehrheit der indischen Bevölkerung ihre Armee an, die Eindringlinge aus dem Land zu werfen, ist aber gegen einen umfassenden Krieg mit Pakistan
Delhi (taz) – Eine patriotische Welle überspült Indien. Einen Monat nachdem indische Soldaten den Sturm auf die pakistanischen Stellungen im indischen Teil Kaschmirs begonnen haben, hat das Land hinter seiner Armee die Ränge geschlossen. Überall werden Blutspende-Camps eingerichtet, Firmen übertrumpfen sich mit der Gründung von Hilfsfonds für gefallene und verwundete Soldaten, Mitglieder von Nachbarschaftskomitees gehen von Haus zu Haus und sammeln Geld.
Die Medien haben den „stillen Helden“ – den einfachen Soldaten – entdeckt. Er steht im Mittelpunkt von Reportagen, die bei der Morgenrasur anfangen, ihn im gefährlichen Ansturm auf die Höhenfestungen des Gegners begleiten, und die dabei sind, wenn der mit den Nationalfarben geschmückte Sarg ins Dorf zurückkehrt. Die Soldaten sind aber auch Kanonenfutter für Firmeninserate. Um die Blutspenden hat sich ein lukrativer Kleinhandel entwickelt.
Immer häufiger senken die Zeitungen im Interesse einer geeinten Nation den selbstkritischen Blick. Als vor zwei Wochen indische Truppen ein Dorf einäscherten, weil es zwei Untergrundkämpfer versteckt hatte, war dies den Medien kaum Erwähnung wert. Kritische Kolumnisten wechseln von Analysen zu Anfeuerungsrufen, und die politischen Parteien wetteifern in ihrer Unterstützung der Armee, ungeachtet dessen, daß im September Wahlen stattfinden. Der Schock über die plötzliche Verletzung der eigenen Grenzen durch den Nachbarn, mit dem man soeben noch einen Freundschaftstrunk teilte, hat die vielfältig fragmentierte Nation plötzlich geeint.
Geholfen hat die anfängliche Unterlegenheit der Armee gegenüber dem Gegner, der das Überraschungsmoment nutzte, um sich auf Höhen über 5000 Metern festzusetzen und Indien zu zwingen, von unten anzugreifen. Die bange Frage, wie es möglich war, daß sich das Land trotz seiner Geheimdienste überrumpeln ließ, wird vorläufig nicht gestellt. „Wir wollen nichts tun, was die Moral der Armee auch nur berühren könnte“, appellierte ein Minister an die Opposition, jetzt nicht das Bild der Zerstrittenheit zu zeigen.
Die Regierung hat es bisher geschafft, den nationalen Konsens nicht zu sprengen. Ihre Zurückhaltung ist nicht nur darin begründet, daß sie nach ihrem Sturz im April nur noch eine geschäftsführende Rolle ausübt. Die gemäßigte Linie von Premierminister Vajpayee verspricht auch politische Dividenden. Die bisherige Respektierung der Grenzlinie in Kaschmir führte zu einem nie dagewesenen Verständnis der Staatengemeinschaft für die indische Position. Auch innenpolitisch scheint die Regierung die Stimmung im Volk richtig einzuschätzen, das in seiner großen Mehrheit die Armee anfeuert, die Eindringlinge rauszuwerfen, aber gleichzeitig gegen einen umfassenden Waffengang mit Pakistan ist. Auch der immer deutlichere Versuch der USA, die beiden Widersacher an den Tisch zu bringen, wird nur akzeptiert, wenn alle Freischärler indischen Boden zuvor verlassen haben.
Zweifellos spielt dabei eine Rolle, daß beide Länder nun auch offiziell über Atomwaffen verfügen. Das Publikum in Indien weiß, daß Pakistan im Gegensatz zur eigenen Position einen nuklearen Erstschlag nicht ausschließt. Die Existenz verschiedener Machtzentren – Premierminister, Armee, islamistische Gruppen – fördert die Furcht vor einer ungenügenden Kontrolle dieser Waffe. Auch Indien hat Scharfmacher. Die Presse der hinduistisch-nationalistischen RSS fragt Vajpayee, warum er die Bombe testete, wenn er sie nicht einsetzen will. Und sie kann es nicht lassen, den Patriotismus muslimischer Inder in Frage zu stellen. Bei einer Demonstration von Muslimen aus Bombay zugunsten der indischen Armeeaktion sah man kleine Mädchen mit Plakaten: „Ich liebe mein Indien. Ich hasse Pakistan.“ Dies drückt auch die Angst der muslimischen Minderheit aus, bei einem Krieg mit Pakistan als erste zum Feind gestempelt zu werden.
Nur in Kaschmir selbst blieb die Loyalität zu Indien halbherzig. Indische Fernsehstationen werden nicht müde, Leute aus Srinagar zu filmen, die der pakistanischen Nadelstiche überdrüssig sind. Die Kaschmiris wissen, wer ihnen die Butter aufs Brot streicht. Das Ausbleiben der Touristen hat Hausbootsbesitzer, Reiseführer und Souvenirhändler um die erste gute Saison seit Jahren gebracht. Ihr Ärger richtet sich gegen Pakistan. Gegenüber Ausländern verbergen sie aber nicht ihre Schadenfreude, daß die eigenen „Boys“ der allmächtigen indischen Armee ein Schnippchen schlugen. Es ist der Reflex jahrzehntealter Okkupation in Form von Straßensperren, Sandsack-Bunkern und Militärkonvois, die jede Begeisterung für den Beschützer erstickt hat – wenn sie je existierte. Bernard Imhasly
Der Schock über die Verletzung der eigenen Grenzen durch den NachbarnPakistan eint plötzlich die vielfältig fragmentierte indische Nation
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