piwik no script img

„Die Inhaftierung ist unverhältnismäßig“

■ Für ihre Anhänger ist Nuran A. eine politische Gefangene. Für die Staatsanwaltschaft dagegen eine ganz normale Angeklagte. Am heutigen Donnerstag beginnt der Prozeß

Das Unterstützerkomitee „More Keskin“ trommelt schon seit Wochen. Der heute beginnende Prozeß gegen die 30jährige Nuran A., alias More Keskin, sei einer „der brisantesten politischen Prozesse, die in den letzten Jahren in Berlin stattgefunden haben“, heißt es in den Flugblättern der politisch nicht näher ausgewiesenen Gruppe. Justizsprecher Matthias Rebentisch sieht das nüchterner. „Das ist ein ganz normales Verfahren wegen Volksverhetzung, Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole sowie Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz.“

Bemerkenswert ist immerhin, daß die Angeklagte seit dem 1. Mai 1999 in Untersuchungshaft sitzt, obwohl die Vorwürfe nicht so schwerwiegend sind und zumTeil über 5 Jahre zurückliegen: Am 20. April 1993 soll die Frau bei einer Demonstration durch ein Megaphon „Deutsche Polizisten, Mörder und Faschisten“ gerufen haben.

Am 1. Mai 1994 soll sie wiederum bei einer Demonstration über Lautsprecher „Deutschland verrecke“ und „Deutsche Polizisten üben fleißig für neues 33“ gerufen haben. Außerdem soll sie den Deutschland-Song der Punkband Slime mit dem Refrain „Deutschland muß sterben, damit wir leben können“, abgespielt haben.

Die Staatsanwaltschaft ist der Auffassung, daß das öffentliche Abspielen des Songs eine Verunglimpfung des Staates darstellt, obwohl der Song nicht indiziert und frei verkäuflich ist.

Des weiteren werden Nuran A. zwei Verstöße gegen das Versammlungsgesetz im Mai 1995 zur Last gelegt. In einem Fall soll sie eine Fahne der verbotenen PKK-Untergrundorganisation IRNK geschwenkt haben.

Für das Unterstützerkomitee ist More Keskin „eine politische Gefangene“ und das heute vor der Staatsschutzkammer des Landgerichts beginnende Verfahren „ein Musterbeispiel für staatliche politische Verfolgung und Justizwillkür“.

Der Anwalt der Angeklagten, Benjamin Raabe, teilt die Diktion des Flugblattes überhaupt nicht. Aber auch er ist der Meinung, daß an seiner Mandantin ein Exempel statuiert werden soll.

„Die Inhaftierung steht in keinem Verhältnis zu den Vorwürfen. Es handelt sich um eine völlige Überreaktion der Ermittlungsbehörden“, bemerkt er.

Der Haftbefehl gegen Nuran A. datiert vom Mai 1994, war aber außer Vollzug gesetzt worden, als sie sich im Frühjahr 1995 der Polizei stellte. Im Oktober 1995 wurde er wieder in Kraft gesetzt, als Nuran A. nicht zum Prozeß erschien, sich aber mit einem Attest krank meldete.

Erst bei der diesjährigen 1.-Mai-Demonstration wurde sie verhaftet und sitzt seither in U-Haft. Eine Haftverschonung hat das Gericht nach Angaben des Anwaltes abgelehnt, obwohl Nuran A. einen festen Wohnsitz und einen Job in einem Café vorweisen konnte.

Der Anwalt fürchtet, daß im Prozeßverfahren gegen die Angeklagte jetzt ein Exempel statuiert werden soll

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen