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Nordirland verhandelt bis zum letzten Blutstropfen

Die Krisenprovinz muß weiter zittern: Die von Tony Blair gesetzte Frist an Nordirlands Parteien, eine gemeinsame Regierung zu bilden, ist verstrichen. Nun wird weiterverhandelt. Die einzige gute Nachricht: Anders als früher redet jeder mit jedem    ■ Aus Belfast Ralf Sotscheck

Als die Frist um Mitternacht verstrich, spielte der nordirische Musiker Tommy Sands vor dem Belfaster Schloß Stormont ein selbstkomponiertes Stück auf der Flöte. „Call to hope“ nannte er es, denn „Hoffnung ist das einzige, das uns in Nordirland noch bleibt“. Doch je länger die Nacht dauerte, desto mehr schwand die Hoffnung auf einen Durchbruch bei den Verhandlungen über die Bildung einer nordirischen Regierung in den Castle Buildings, den Nebengebäuden des Schlosses. Nach 19 Stunden ohne Pause wurden sie um halb vier gestern früh abgebrochen. Mittags ging es weiter.

Der britische Premierminister Tony Blair hatte den Parteien eine „endgültige Frist“ bis Ende Juni gesetzt, um die im Belfaster Karfreitagsabkommen von 1998 vorgesehene Mehrparteienregierung für Nordirland einzuberufen. Das war bis dahin an der Forderung der Unionisten gescheitert, daß die Irisch-Republikanische Armee (IRA) ihre Waffen abgibt, bevor ihr politischer Flügel Sinn Féin die beiden Ministerposten erhält, die der Partei aufgrund des Wahlergebnisses vom Juni vorigen Jahres zustehen.

Sinn Fein bot spät am Mittwoch abend, offenbar nach Konsultationen mit der IRA, ein Zugeständnis an: Die IRA werde ab Oktober mit der Abrüstung beginnen, falls die nordirische Regierung inklusive Sinn Féin sofort eingesetzt würde. Sollte die IRA das Versprechen nicht erfüllen, könne Sinn Féin dann wieder aus der Regierung geworfen werden. Blair bat den Sinn-Féin-Präsidenten Gerry Adams, den Vorschlag mit ihm gemeinsam der unionistischen Fraktion zu erläutern. Adams sagte zu, doch die Unionisten lehnten sowohl den Adams-Auftritt als auch den Vorschlag ab.

Als die von Blair gesetzte Frist längst verstrichen war, gingen die Gespräche weiter – mal bilateral, mal im Plenum. Beide Seiten versuchten, sich gegenseitig „den letzten Tropfen eines Kompromisses“ herauszuquetschen, wie ein Berater Tony Blairs es formulierte. Gegen fünf Uhr früh, man hatte sich anderthalb Stunden zuvor vertagt, traten Gerry Adams und sein Vize Martin McGuinness vor die Mikrofone. Beide waren sichtlich erschöpft. Einer von Blairs Beratern sagte über McGuinness: „Er sieht aus, als ob er einen Boxkampf mit Mike Tyson über zwölf Runden hinter sich hat.“ Der Premierminister sagte schließlich seine für gestern vormittag geplante Rede zur Eröffnung des schottischen Parlaments in Edinburgh ab, um in Belfast weiterzuverhandeln.

Paradoxerweise sind die Vertreter der bewaffneten Gruppen zuweilen flexibler als die Politiker. „Dieses Abkommen ist unsere einzige Chance“, sagte David Ervine von der Progressive Unionist Party, politischer Flügel der protestantischen Ulster Volunteer Force (UVF), zur taz und kritisierte Trimble und seine Partei für mangelnde Kompromißbereitschaft. „Das Belfaster Abkommen ist ein Gesetz des Vereinigten Königreiches. Einige, die sich als Unionisten bezeichnen, sind in Wirklichkeit A-la-carte-Unionisten.“

Das Dilemma der Gespräche beschrieb er so: „Alle paramilitärischen Organisationen beobachten sich gegenseitig mit Adleraugen. Keine wird alleine handeln.“ Für den Fall, daß das Abkommen scheitere, prophezeite Ervine „in Anbetracht der tiefen Spaltung unserer Gesellschaft“ eine Rückkehr zur Gewalt. Er verwies jedoch auch auf die Fortschritte, die man in den vergangenen Jahren gemacht habe: „Zuerst konnten sich beide Seiten nicht mal im selben Gebäude aufhalten, dann konnten wir nicht im selben Raum sein, und später waren Gespräche nur über Vermittler möglich. Heute laufen die Vertreter aller Parteien auf den Korridoren in den Castle Buildings herum und reden mit jedem.“

Ausgenommen Ian Paisley. Der reaktionäre Pfarrer und seine Democratic Unionist Party waren den Friedensverhandlungen von vornherein ferngeblieben. Paisley war vorgestern zu den Castle Buildings gekommen, um für ein Scheitern der Verhandlungen zu beten. „Gott ist auf der Seite der Gegner des Belfaster Abkommens“, sagte er. Sein Sohn, der auch Ian Paisley heißt, war sich nicht ganz so sicher. Gott könne drei Antworten auf die Gebete geben, sagte er: „Ja, nein, warte.“

Am frühen Abend tauchten Vertreter des protestantischen Oranier-Ordens von Portadown auf, wo am Sonntag die umstrittene Parade durch die katholische Garvaghy Road stattfinden soll. Die Parade ist verboten worden, aber vermutlich hat Blair den Unionisten in Aussicht gestellt, sie doch noch zu genehmigen, falls sie bei der Abrüstung Kompromißbereitschaft zeigen. Für Sonntag rechnet die Polizei mit erheblichen Krawallen in Portadown. Angeblich sollen britische Faschisten von der Gruppe „Combat 18“ auf dem Weg dorthin sein.

Ob es bis dahin eine Lösung bei den Verhandlungen geben wird, war gestern nachmittag völlig unklar. Vieles deutete auf eine Verschiebung bis September hin.

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