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Der Herr über 40.000 Kartons

Der Umzug nach Berlin hat begonnen. Gestern starteten die ersten Container mit Möbeln und Akten des Bundestags. Roger Cloes, Chef der „Projektgruppe Steuerung Umzug“, beschäftigt sich seit zwei Jahren mit nichts anderem. Mit Passion und Liebe zum Detail verteilt er Räume und Liegenschaften  ■   Von Jutta Wagemann

Berlin (taz) – Ausgerechnet vor einer Woche wurde Roger Cloes zum zweiten Mal Vater. Mitten in der heißesten Phase, als Cloes garantiert kaum eine Minute Zeit haben würde, kam Katharina auf die Welt. Als erstes mußte das Baby deshalb umziehen, nach Heilbronn zu den Großeltern. Denn ihr Vater hat zur Zeit nur eines im Kopf: den Umzug nach Berlin.

Über den Umzug in die neue Hauptstadt stöhnen in diesen Tagen alle in Bonn. Unterlagen, die man dringend braucht, sind schon im Karton. Die neue Wohnung ist nicht rechtzeitig bezugsfertig, Schüler, die umziehen, haben dank der unterschiedlichen Termine insgesamt elf Wochen Ferien – ein Alptraum für die Eltern.

Über den Umzug stöhnen in Bonn in diesen Tagen alle

Nur einer stöhnt nicht. Im Gegenteil. Mit dem Eifer, mit dem andere Briefmarken sammeln, verteilt Roger Cloes Räume. Dabei hätte der 43jährige mit den korrekt frisierten Haaren viel mehr Grund als alle anderen, die Nerven zu verlieren. Cloes hat es nicht mit ein paar Kartons zu tun. Der Chef der „Projektgruppe Steuerung Umzug Berlin“ managt den gesamten Umzug des Bundestags.

Die Zahlen sind schnell genannt. 5.299 Personen gehören zu diesem Troß, 50.000 Kubikmeter Möbel, Akten, Kunstwerke und technische Geräte. Seit gestern werden 40.000 Kartons sukzessive vom Bahnhof Köln-Eifeltor aus auf die Reise geschickt. „Jeden Tag sind das 2.000 Kubikmeter. Das ergibt einen Güterzug von 400 Metern Länge. Den können Sie einmal um einen Sportplatz wikkeln.“ Cloes hat alle Zahlen parat und alle anschaulichen Vergleiche.

Gestern startete der erste Güterzug Richtung Berlin. 25 bis 40 Container sollten am frühen Abend verladen werden. Die 1.123 Mitarbeiter der Bundestagsverwaltung nehmen als erstes ihre Arbeit in Berlin auf. Danach folgen die Abgeordneten und Fraktionen. Bis Ende Juli werden rund 1.000 Container nach Berlin gebracht. „Bislang läuft alles planmäßig“, sagte Cloes gestern erleichtert.

Der Umzugschef blickt auf die Tabelle in seinem Computer. Raum 8 müsse in dieser Liegenschaft eigentlich frei sein, erklärt er dem Anrufer. Der Mann zieht von einem Gebäude in Bonn in ein anderes, bevor er dann nach Berlin zieht. Cloes nennt so etwas Verdichtungsumzug. Je schneller der Bund ein Haus in Bonn räumen und „abmieten“ kann, desto besser für den Steuerzahler. Und jetzt ist Raum 8 belegt. „ Nach meiner Datenlage müßte der Raum frei sein.“ Cloes schüttelt den Kopf. Nein, dieses Problem braucht eine intensive Nachforschung. Er wird sich kümmern. Hat der Umzugsbeauftragte dieser Liegenschaft – das Wort Gebäude verwendet Cloes nie – etwa die Daten nicht korrekt übermittelt?

Möbelwagen waren schon in der vergangenen Woche im Regierungsviertel zu sehen. Die ersten Zeitungen und Sender lösten ihre Bonner Büros auf, die ersten Ministerien packten. Am Samstag nachmittag stand auch im Bundestag Kistenpacken an. Das machen die Mitglieder des Bundestages nicht selbst. Das übernimmt die Umzugsfirma. Die Mannheimer Gruppe Confern hat den fast zehn Millionen Mark schweren Auftrag bekommen. Doch wer garantiert, daß an einem Samstag Pförtner da sind, die die Zufahrten frei machen? Die Umzugsbeauftragten müssen dabei sein. Jemand muß auf die Verpackung von vertraulichen Unterlagen achten. Mit 170.000 Aufklebern wurden auf die 40.000 Kartons versehen, damit die Fracht auch wirklich an die richtige Adresse kommt. Die Parkplätze vor den Häusern, pardon, Liegenschaften, müssen frei sein. Wie erreicht man die zuständigen Ansprechpartner? Mit diesen Fragen beschäftigt sich Roger Cloes seit fast zwei Jahren. Im November 1997 wurde er als Chefumzieher eingesetzt, sechs Mitarbeiter stehen ihm zur Verfügung. Vor allem aber kann er auf das Know-how der Flughafen München GmbH zurückgreifen, die 1992 den Umzug des kompletten Münchner Flughafens in nur einer Nacht organisierte. Mit parlamentarischen Gremien kennen sich die Münchner jedoch nicht aus. Deshalb brauchen sie Cloes. Er weiß, wer mit wem umziehen muß.

Ein Parlament ist ein komplexes Gebilde. Fraktionen können nicht arbeiten, wenn ihre Mitarbeiter nicht da sind. Sie brauchen eine Bibliothek, den wissenschaftlichen Dienst. Die Post muß verteilt werden. Faxgeräte sollten funktionieren. Roger Cloes ist daher permanent dabei, zu koordinieren, abzustimmen, zu regeln, zu ordnen. Was andere Menschen wahnsinnig machen würde, ist für diesen Mann Passion.

Der private Umzug folgt erst, wenn alles vorbei ist

Das Einpacken am Samstag klappte denn auch schneller als geplant. Zeitgleich waren die Möbelpacker in 25 Liegenschaften beschäftigt. Erstes Ziel in Berlin ist das Reichstagsgebäude, wo das Umzugsgut heute eintreffen soll.

Genug Erfahrung für den nervenaufreibenden Job hat Cloes. Der promovierte Wirtschaftswissenschaftler, der in Paris, New York, London und Marburg studiert hat, war Leiter verschiedener Ausschußsekretariate im Bundestag. Mitnichten heißt das, er war Sekretär. „Die organisatorisch-technische Vorbereitung der Ausschußsitzungen war meine Aufgabe“, erklärt er korrekt, aber geduldig. Er mußte die Sitzungen inhaltlich aufbereiten, Sachverständige einladen und Protokolle schreiben. Protokolle, die im Zweifelsfall vor Gericht verwertbar sein müssen. „Ich sage Ihnen, ein Protokoll über die Festlandsockelverordnung, das hat es in sich.“

Zuvor war Roger Cloes im wissenschaftlichen Dienst des Bundestags tätig. Zur deutsch-deutschen und zur europäischen Währungsunion hat er Stellungnahmen und Fachanfragen bearbeitet. Seine Auskunft mußte hundertprozentig stimmen. „In den letzten zehn Jahren habe ich Tätigkeiten gemacht, die nicht alltäglich sind“, sagt er mit zurückhaltendem Stolz. An seiner Bürotür hängt ein Plakat vom Kulturpark Brandenburg. Auf den zusammengefalteten Umzugskartons liegt der Spree-Express. Mit seiner Familie zieht Roger Cloes erst um, wenn alles vorbei ist. Ende August. Wer ihn erreichen will, wird aber jetzt schon häufig mit seinem Handy verbunden. Dann sitzt er vielleicht gerade im Köln-Bonner Flughafen und wartet auf seine Maschine nach Berlin.

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