piwik no script img

Rauf und runter in vier Tagen

Trekking für Anfänger: Nepal im Crashtest. Das beschleunigt Atem und Puls, schärft den Weitblick und bringt mehr Höhenmeter als in den Alpen. Atemraubender Ausflug in die Wildnis auf luxuriöse Art  ■   Von Carlo Ingelfinger

Katmandu, abends. 25 Grad. Die feuchte Luft der Vormonsunzeit. Wir sitzen im Touristenviertel Thamel auf der Terrasse des „Rumdoodle“, einer „ehemals berühmten, jetzt aber etwas heruntergekommenen Kneipe“, so die Beschreibung eines Reisebuchs. Ganz so schlimm ist es nicht.

Eine Ansage tönt aus dem Lautsprecher: „Wir haben hier zwei Kanadier, eben vom Everest-Gipfel zurück. Falls sie jemand etwas fragen will ...“ Von uns will niemand etwas fragen. Wir wollen unser Abendesssen. Es schmeckt dann mäßig.

Wir sind gerade eingeflogen zum siebentägigen Nepal-Kurztrip. Die Höhenluft der Rumdoodle-Terrasse (ca. 1.500 Meter) beflügelt die Runde ungemein: Hat Superbergsteiger Reinhold Messner bei seinen 8.000er-Besteigungen wirklich ein paar Gehirnzellen zuviel verloren? Phantasiert er deshalb vom Yeti und der Vollsperrung von Alpengipfeln für Touristen? War Mallory vor 75 Jahren auf dem Everest, oder ging's schon vor dem Gipfel ab in die tödliche Tiefe? Ist es nicht makaber, Expeditionen zu Bergsteigerleichen zu unternehmen?

Mag sein. Wir kommen da sowieso nicht hin. Wir gehen ins Langtanggebiet nahe Katmandu. Der höchste Gipfel dort ist der Langtang-Lirung mit 7.234 Metern. Aber auch er ist nicht unser Ziel. Wir machen Trekking. Da ist der Weg das Ziel.

Wir sind elf: Trekkingprofis, Bergsteiger, Anfänger wie ich.

***

Was erwarten Sie vom Trekking? Blut, Schweiß und Tränen? Falsch, ganz falsch. Befriedigung durch Erschöpfung als Kontrast zum Büroalltag? Bedingt. Eine anspruchsvolle Wanderung in zauberhafter, wildfremder Umgebung mit vollem Komfortausgleich? Das kriegen Sie.

Der durchschnittliche Trekker ist 45 Jahre alt, hat sich früher seinen Individual- oder Abenteuerurlaub selber organisiert, hat inzwischen den ständigen Ärger damit satt und kann sich den Zeitverlust beruflich nicht leisten. Dafür verdient er genug Geld, um seine Reise von einem Veranstalter organisieren zu lassen. Und er will ein bißchen Luxus, auch in einem armen Land wie Nepal.

Genießen Sie also die Behaglichkeit, die einen auf einer Trekkingtour umfangen kann: Sie ruhen in einem geräumigen Zelt, das tags für Sie getragen, abends für Sie aufgebaut wird. Ihr Lager: Eine fürsorglich bezogenene Thermomatte. Morgens weckt Sie eine sanfte Stimme: „Good morning Sir. Your tea.“ Der Tee – „Sugar? Milk?“ – wird am Zelt ausgeschenkt. Dann kommt die Schüssel mit dem lauwarmen Waschwasser. Ein Gang zum Klozelt über der am Abend zuvor ausgehobenen Grube. Frühstück, Mittag- und Abendessen werden auf mitgetragenen Campinghockern an mitgetragenen Tischen eingenommen – im Eßzelt. Tafeln Sie bei Kerzenlicht, und lassen Sie sich verwöhnen von der indisch beeinflußten Küche Nepals: z. B. einer Ingwersuppe, Fleischbällchen, Frühlingsrollen, Gemüse. Zum Nachtisch vielleicht Kuchen? Natürlich Reis. Natürlich Fladenbrote. Natürlich Eier zum Frühstück, nebst Müsli, Porridge, Butter, Honig, Marmelade. Tee, Kaffee? Oder lieber Cola, Sprite, Bier – die hervorragenden Lizenzgebräue von Tuborg und San Miguel? Auch auf 4.000 Meter Höhe, drei Tagesmärsche von der nächsten Straße mit 3 Dollar pro 0,66-Liter-Flasche für Sie durchaus erschwinglich. Jeden Abend kreist die Rumflasche. Abwasch wird für Sie erledigt. Für den kleinen Hunger oder Durst zwischendurch gibt es die vielen Imbißstände oder Lodges am Wegrand, die zur Rast laden. Abnehmen durch solcherart Trekking? Vergessen Sie's.

***

Die Wanderung beginnt mit dem Bus: Raus aus Katmandu, einem eher milden Dritte-Welt-Konglomerat, trotz der extremen Bevölkerungsdichte, des Lärms und der Abgase von Bussen und „Tempo“-Dreirädern, die den öffentlichen Nahverkehr besorgen und sorgfältig die auf den Straßen ruhenden Kühe umfahren. 6 Stunden für 120 Kilometer, das letzte Drittel davon ungeteert. Hoch über steil aufgefältelte Täler, jeder bebaubare Quadratmeter terrassiert und bepflanzt mit Reis, Gemüse, Mais, Gerste; blitzende Wellblech-, matte Schiefer- oder Strohdächer. Kurven, Wolken. „Super Sonic“ steht auf den entgegenkommenden, völlig überfüllten Bussen, „Blow Horn“, fordern große Aufschriften auf den überladenen Lastwagen gebieterisch. Doch die Umgangsformen auf der Straße zeichnen sich durch ausgesprochene Rücksichtnahme und Höflichkeit aus.

Wir kommen bei Regen im Dorf Dhunche auf rund 2.000 Meter Höhe an, übernachten nach exzellentem Abendessen im einfachen Hotel. Kurz zuvor haben wir den Kontrollposten an der Grenze zum Nationalpark Langtang passiert: Ab hier Hupen verboten! Ökologische Verantwortung zeigen, sanften Tourismus praktizieren! Haben wir, machen wir.

Am nächsten Morgen treffen wir die Träger.

***

Trekking, so schätzt der seit 1950 Nepal verbundene Kenner Toni Hagen, hat seit dem Beginn eines nennenswerten Tourismus Ende der 60er Jahre rund 2.000 Dauerarbeitsplätze und 25.000 Zeitarbeitsplätze geschaffen. Hagen kennt Katmandu noch als Stadt ohne Elektrizität, abends erleuchtet von den flackernden Öllämpchen in den Häusern, von der indischen Grenze nur in langen Fußmärschen zu erreichen. Landstraßen gab es nicht.

Viele der neuen Arbeitsplätze ersetzen lokal diejenigen, die durch Veränderung der Handelswege oder der Agrarstruktur verlorengegangen sind. Dem gegenüber steht die Gefahr einer beschleunigten Umwandlung gewisser Gebiete wie der Annapurna-Region (rund 52.000 Trekker jährlich), der Everest-Region (17.000) und auch des Langtang (immerhin noch 7.700): Sie werden zu Dienstleistungsregionen mit den entsprechenden gesellschaftlichen Veränderungen und mit neu angelegten Straßen, garantiert erosionsfördernd.

Nepal lebt in hohem Maß von Entwicklungshilfe und Tourismus. 18 Prozent der gesamten Deviseneinnahmen erwirtschaftet der Tourismussektor, und rund 30 Prozent der 330.000 Touristen, die 1998 aus aller Welt kamen, waren Trekker und Bergsteiger. Immerhin 36 Prozent des von Touristen ausgegebenen Geldes bleibt, der Rest allerdings geht an auswärtige Veranstalter und Serviceleister. Es gilt, so sagen die weitsichtigeren Experten, die Attraktivität des Landes der Extreme zwischen Tieflanddschungel und 8.000ern durch Schaffung eines rigorosen Umweltbewußsteins und sehr behutsame Entwicklung zu bewahren, anstatt sie durch Projekte wie Skilifts und Heli-Skiing voranzutreiben und letztlich zu zerstören. Die Umwelterziehung beginne jetzt zu greifen, es gebe Anlaß zu vorsichtigem Optimismus, meinen Optimisten.

Wir elf beschäftigen für vier Tage 27 Personen. Die Mannschaft: der Sirdar (der Chef), drei Sherpas als Führer, fünfzehn Träger samt Obmann – unter ihnen zwei Frauen -, zwei Köche, fünf Küchenjungs. Sie nehmen uns fast alle Unbequemlichkeiten ab. Die Träger gehen in Badelatschen mit rund 30 Kilo Last – Zelte, Proviant, Kochgeräte, Geschirr, unsere Seesäcke –, als Bündel an Stirnbänder geschnürt. Der Tageslohn: 6 Dollar.

Immerhin: Laufen müssen wir selber. Das kann manchmal genug sein.

***

Die Luft am Morgen ist lau und dampfig nach dem nächtlichen Regen. Wolken ziehen rasch die mit Kiefern und tropischem Nebelwald bedeckten Hänge hoch. Kaum ein freier Blick auf einen Schneegipfel. Es geht bergab, bevor wir auf einer Hängebrücke den wilden Langtangfluß überqueren, in dessen schroffer Schlucht und von dessen Rauschen begleitet wir die nächsten Tage bis auf rund 4.000 Meter Höhe wandern. Die Gruppe zieht sich auseinander, Kleingruppen bilden sich, jeder kann seinem individuellen Rhythmus folgen. Die Tagestouren dauern zwischen sechs und sieben Stunden reiner Gehzeit. Man trifft sich an den Rastplätzen wieder. Keiner geht verloren: Am Schluß bummelt ein Sherpa, der sich um Nachzügler kümmert.

Wir wandern auf einem gepflegten, bequemen Verbindungsweg mit vielen Steintreppen zwischen kleinen Dörfern und ihren terrassierten Feldern. Trekker und Lastträger begegnen uns. Alle Lasten werden am Stirnband getragen: Getränke, Heu und Ernte, die Waren für die Krämerläden, die Sandsäcke und Balken für einen Hausbau. Wasserfälle und Bergbäche treiben Getreide- und Gebetsmühlen an, am Weg stehen schlichte, von Gebetsfahnen umgebene steingeschichtete graue Schreine und Gebetsmauern. Vorschriftsmäßig umgehen wir sie links.

Wir atmen den harzigen Duft der Kiefern, das Aroma der Holz- oder Kerosinfeuer in den Döfern. Wir hören durchs tobende Wasser oder in abgeschiedener morgendlicher Stille Papageien- und Kukkucksrufe. Unter hohen, rotblühenden Rhododendren und auf Lichtungen grünt Ganja, manche Bambusgehölze verdorren an einer mysteriösen Krankheit, deren Ursache uns niemand zu sagen weiß. Kakteenähnliche Gewächse überraschen in der feuchten, aber jetzt klaren Luft. Unter einem überhängenden Felsen haben Wildbienen riesige Waben mit Honig gefüllt. Zwischen Felsbrokken huschen Eichhörnchen und Hamster.

Wir durchqueren ein Dorf wie Syabru, ein wahres Trekker-Zentrum: 24 kleine Lodges sind hier entstanden, gefördert vom UN-Entwicklungshilfedienst UNDP. Viele haben Sonnenkollektoren. Im Dorf Langtang, höher im Tal, sorgt ein kleines Wasserelektrizitätswerk für Strom – eine Ausnahme in solch relativ abgelegenen Gegenden. Ein ursprünglich von der Schweiz gefördertes Projekt annonciert Rauchkäse und Brot auf italienische Manier. Ein Plakat brüllt Handy-Süchtigen zu: „Hello! I'm on the top! Satellite Telephone available!“

Wir rasten. Diensteifrig sprüht der Wirt einen fliegenbedeckten Tisch für uns frei. Chemie! Pfui! Das mögen wir nicht. Wir setzen uns demonstrativ woanders hin.

***

Wir elf Mitteleuropäer, die da für sieben Tage über 7.000 Kilometer in einen völlig fremden Kulturkreis geflogen worden sind, bewegen uns dort wie Fremdkörper. Geduldete, sogar willkommene Fremdkörper, gewiß. Doch für uns sind und bleiben die Bewohner Staffage. Die Nepalesen, gegliedert in verwirrend viele Stämme mit verwirrend vielen Gottheiten und Festen, erleben wir vorzugsweise als unauffällig-freundlich Dienstbare. Fast nie wird man bestürmt, belästigt, mit Angeboten überrannt. Es herrscht eine gelassen-freundliche Neugier und eine souveräne Unbefangenheit. Es darf fotografiert werden. Wie durch eine Glasscheibe beobachten wir das Familienleben vor dem Haus, auf dem Holzbalkon, durch die offenen Türen und Fenster in den Häusern. Die Frauen in farbigen Trachten, die Männer in Braun und Grau. Mütter lausen ihre Kinder, Haare werden geschnitten, um jeden Wasserhahn, am Wasserschlauch, am Bach drängen sich Waschende und Wäschewaschende. Kinder, Frauen und Männer arbeiten mit Hacken und primitiven Pflügen auf den Terrassenfeldern, Männer zersägen mit der Handsäge in tagelanger Arbeit riesige Baumstämme oder behauen einen Felsblock zu den flachen Steinen, aus denen die Häuser geschichtet sind. Kinder spielen „Himmel und Hölle“ und jonglieren mit Steinchen und Kronkorken. Die Älteren haben ihre kleinen Geschwister auf den Rücken gebunden. Wenige betteln. Probeweise, ein bißchen. „Gebt nichts“ steht auf unseremTrekkingpermit. Manchmal geben wir trotzdem etwas.

***

Das Tal hat sich geweitet. Wir sind am letzten Lagerplatz. Es hat jede Nacht geregnet, die Tage waren trocken, wolkig und blau. Um uns über 6.000 Meter hohe Berge, über uns der Langtang-Lirung. War der Weg das Ziel?

Nicht allein. Ein Gipfel ist in Sicht- und Reichweite, ein Aussichtsberg: der Tsergo-Ri mit renommierunfreundlichen 4.984 Metern – nicht einmal ein Fünftausender! Eine Gras- und Geröllhöhe mit flatternden Gebetsfahnen auf dem Gipfel. Technisch kein Problem für Bergwanderer. Aber die dünne Luft! Die Kurzatmigkeit! Die Höhenkrankheit!

Im Eßzelt werden heute abend, vor der üblichen, liebevoll gepflegten Tratsch- und Rumrunde, Verhaltensmaßregeln erläutert. Die Erfahrenen würzen den Vortrag mit Heldensagen und selbsterlebten Bergtragödien – zum Glück spielen sich die Geschichten alle noch ein paar tausend Höhenmeter über unserem Standort ab.

Am nächsten Morgen dann gehen und keuchen wir aufwärts über einen Gratweg, und immer wieder geben die Wolken den Blick frei auf Gletscher der Nachbargruppe. Dumpfes Dröhnen begleitet den Abgang von Eislawinen drüben. Dann hoch, hoch, höher, unter Herzklopfen über steile, mit winzigen Rhododendren und Lilien bewachsene Matten zum Gipfel. Jagende Wolken, ein jagender Puls. Ruhe. Zeit. Ein Blick, der das vom Flußufer aus erahnte Versprechen von Höhe erfüllt: auf Bergketten, die bis nach Tibet reichen, auf glitzernde Schneefelder und Pässe, in die schwarzgrüne Tiefe des Tals, aus dem wir gekommen sind, von Wolken in raschem Wechsel ver- und enthüllt.

***

Was kann danach noch kommen? Die Belohnung. Denn der organisierte Trekker läßt sich – wie der individuelle – für die ersehnten, erlittenen, genossenen Strapazen gern mit Luxus verwöhnen. Am nächsten Tag zuerst ein halbstündiger Helikopterflug aus dem engen Tal heraus über Berge und Wolken zurück nach Katmandu, mit Tiefblicken auf die Terrassenfelder der dichtbesiedelten Täler und einem Querblick weit hinüber bis zum Mount Everest. Dann die Fahrt vom Flughafen zum Hotel. Dann das Hotel „Dwarika's“ – die eigentliche Belohnung.

Eine im traditionellen Stil Zug um Zug erbaute Anlage, in deren Mauern Fensterstöcke, Rahmen, hölzerne Pfeiler aus dem 13. bis 19. Jahrhundert integriert sind, die der Architekt und Gründer des Hotels seit den fünfziger Jahren aus Abbruchhäusern vor dem Zersägen und Verfeuern gerettet hat. Eine angeschlossene Werkstatt bildet Handwerker in den traditionellen Schnitztechniken aus.

Der Gipfelstürmer genießt das Gefühl der Großzügigkeit in den 50 bis 60 Quadratmeter großen, terrakottabelegten Räumen mit ihren schiefergefliesten Badezimmern. Er genießt Ruhe und Kühle des Innenhofs im lauten und heißen Katmandu. Er sitzt im Schatten der Bäume, trinkt Tee und bedauert gebührend den zweiten Teil seiner Gruppe, der wegen schlechten Wetters an diesem Tag nicht mehr aus dem Langtang ausgeflogen wird. Er legt sich seine Anekdoten und Geschichten zurecht. Über die roten Ziegelgesimse turnen ab und zu Affen. Er ist weit weg von zu Hause. Aber die Luftratten, die sich mit dem einfallenden Abend lautstark auf denselben Gesimsen tummeln, erinnern ihn daran, daß er schon morgen wieder in Berlin ist.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen