: Comic-Held und Kolonialherr
Keine Mädchen und auch sonst keine Hobbies: Die Werkausgabe von „Tim und Struppi“ ermöglicht weitreichende Einsichten in die Verfassung des Reporters ohne Eigenschaften ■ Von Jens Balzer
Der erste Massenauflauf, seit die Massenkultur auch Kinder im Schulalter umwirbt, drängt sich an einem Junitag 1930 auf dem Brüsseler Bahnhof. Hunderte von Jungen erwarten einen Zug, der angeblich aus Moskau kommt und zwei unerschrockene Rußlandreisende nach Hause bringt: Den pfiffigen Reporter Tim und Struppi, seinen klugen Hund. Eineinhalb Jahre lang haben die beiden die belgische Jugend mit Ansichten aus dem russischen Revolutionsalltag versorgt. Im Petit Vingtième, einem katholischen Pfadfinderheft, konnte man ihre gefährlichen Abenteuer verfolgen: Sie wurden von bärtigen Bolschewiken gejagt oder in finstere Folterkeller gesperrt.
Kindgerecht gegen den Kommunismus
Für ihren Triumphzug auf dem Brüsseler Bahnhof werden Tim und Struppi von zwei Schauspielern gedoubelt. Tatsächlich sind die beiden bloß Comic-Helden – immerhin die ersten der europäischen Jugendkulturgeschichte. Geschaffen hat sie Georges Rémi, ein junger Zeichner, der sich nach seinen umgestellten Initialien „Hergé“ nennt. Für den Petit Vingtième sollte er die katholische Propaganda gegen den Kommunismus kindgerecht illustrieren. So banal die Ansichten sind, die Hergé dabei vom fernen Sowjetstaat liefert: Die ästhetische Form, die er zu diesem Zwecke entwirft, verblüfft noch heute durch ihre Modernität.
Sein Handwerk hat Hergé zwar an klassischen Bildergeschichten gelernt: Becassine oder Les Pieds Nickeles. Doch er kennt auch die amerikanischen Comics, die während der zwanziger Jahre erstmals in französischen Zeitungen erschienen. Den turbulenten Abenteuerreisen, die seine Figur Tim zu erleben hat, kommt der graphische Schwung des neuen Mediums entgegen. Darum übernimmt Hergé dessen erzählerische Mittel. Sprechblasen, Bildmetaphern, Bewegungssymbole.Allerdings sortiert er das Wirrwarr der Zeichen in streng gegliederten Schemata. Seine Bilder sind gleichmäßig groß und wie im Raster geordnet; ihnen ist zugleich eine ungewöhnliche Statik zu eigen. Wo Comics die Geschwindigkeit ihrer Akteure gern als graphisches Ornament inszenieren, wirkt der rasende Tim stets wie eingefroren. Die sonst bidbestimmenden speedlines sind auf kleine Geschwindigkeitskringel verkürzt. Erst die Montage der einzelnen Szenen suggeriert ein Bild der Bewegung.
Zum Rapport ins riskante Getummel
Dieser Minimalismus ist typisch für Hergé. Er will sich die Modernität des neuen Mediums zunutze machen, aber er scheut die „triviale“ Dynamik des visuellen Affekts. Darum stilisiert er seine graphischen Zeichen wie Schriftsymbole. Auch seinen Helden hält er zeichnerisch knapp: Tims Profil wird bloß durch ein paar Striche, Kurven und Punkte gebildet. Darin ist sein Charakter allerdings vollständig aufgehoben: Der rasende Reporter ist ein Mann ohne besondere Eigenschaften, bestenfalls eine Art Schwerkraftzentrum für gefährliche Situationen. Kein Eigensinn bremst den Schwung seiner Abenteuer; kein persönlicher Wille widersetzt sich dem Rapport ins riskante Getummel. Tim ist eben so intelligent, daß er im aktuellen Schlamassel den rettenden Ausweg erkennt. Bis ihn das nächste Risiko wieder lockt.
Hergés Welt- und Heldenbild haben französische Comic-Kritiker „boyscoutisme“ getauft: heiter, übersichtlich, von der Geistesverfassung grundsätzlich schlicht. Die katholische Prägung des jungen Zeichners ist nicht nur an seinem genrehaften Antikommunismus abzulesen. Tims zweites Abenteuer gerät zur Apologie der belgischen Kolonialpolitik: Auf einer Reise durch Afrika läßt er sich von lustigen Negern als „Meister“ aus dem „Mutterland“ feiern. Tim im Kongo (1932) gilt bis heute als Paradefall für die unselige Allianz zwischen „pädagogischer“ Jugendkultur und rechter Indoktrination.
Diese Art verzerrte Exotik ersetzt Hergé bald durch redlich recherchierte Schauplätze – oder durch übertrieben barocke Phantasiekönigtümer (König Ottokars Zepter, 1939). Der Ruch des Konservatismus indes hängt seinen Geschichten auch weiterhin an. Wirkt nicht schon der schematische Stil seiner „klaren Linie“ wie der Inbegriff einer Heile-Welt-Ästhetik? Tatsächlich scheint Hergé alle graphischen Zweideutigkeiten zu scheuen. Als er später beginnt, seine Comics zu kolorieren, wird er auf Schatten und Farbverläufe völlig verzichten.
Therapie gegen den Ich-Mangel
Doch der gleichbleibend heitere Schein trügt. In den insgesamt 22 Geschichten, die Hergé bis zu seinem Tod 1983 verfaßt, klaffen Bildstil und erzählerische Konstruktion zusehends auseinander. In bemerkenswerter Weise parodieren die späteren Abenteuer ihre eigenen Voraussetzungen. Besonders Tims knabenhafte Subjektivität, seine Mischung aus Einfalt und Abenteuerlust, wird fortgesetzt auf die Probe gestellt: Erst planmäßig überfordert, als Mangel an Ich-Identität später therapiert und geheilt.
Betrachtet man Tim und Struppi als Werkzusammenhang, so lassen sich darin vier Phasen erkennen: Auf die ersten drei Geschichten, Tims „Sturm und Drang“ (bis 1934), folgt die „klassische Phase“ der Serie: Bis Mitte der vierziger Jahre lesen sich Tims Abenteuer wie ein Bildungsroman. Denn Pfiffigkeit und die Nutzung moderner Verkehrsmittel genügen bald nicht mehr, um sich durchzuschlagen. Im Konflikt mit immer klügeren Gegnern muß der Reporter seine Fähigkeiten erweitern. Tims Mittel gewinnen an intellektuellem Witz; er übt sich in der verblüffenden Volte. Aber auch der zum Gangsterschreck reifende Reporter bleibt eigenschaftslos: Er raucht, flucht und trinkt nicht, er lernt keine Mädchen kennen und legt sich auch sonst kein Hobby zu.
Fröhlicher Rationalismus versus Vernunftkritik
Erst der Auftritt des genialen Erfinders Professor Bienlein (in Der Schatz Rackhams des Roten, 1944) ändert den Erzählstil nachhaltig. Er markiert den Übergang in die „Phase des Modernismus“. Als Parodie auf Tims fröhlichen Rationalismus ist Bienlein zugleich eine Figur der Vernunftkritik. Den unbestimmten Charakter des Helden übertreibt er als wertfreie Gleichgültigkeit gegen den Sinn seines Handelns. Wenn Bienlein selbstvergessen an seinen Erfindungen baut – U-Boote, Mondraketen, Atombomben – bleibt er gegen moralische Einwände buchstäblich taub: Den normalen Umgang mit anderen Menschen macht ihm ein Ohrenleiden unmöglich.
Diese mal komisch, mal tragisch gezeichnete Pathologie – Bienlein selbst findet sich bloß ein bißchen „harthörig“ – bleibt nicht auf den Erfinder beschränkt. Sie hat bald das ganze Ensemble von Tim und Struppi erfaßt. Das menschliche Miteinander der „Nebenfiguren“ versinkt im lustigen Chaos fortwährender Mißverständnisse; die Dramatik der Abenteuerhandlung wird in Sprachwitzen zerstreut. Tim versucht zwar, sich aus den kollektiven Späßchen herauszuhalten. Der gestörten Kommunikation entkommt er allerdings nicht: Bald quälen ihn „innere Stimmen“; rätselhafte Befehle aus dem Unterbewußtsein schicken ihn bis in den Himalaya (Tim in Tibet, 1957). Die komische Destruktion der Vernunft muß der Abenteurer als nervöse Ich-Schwäche durchleiden; am Ende sucht er – wie schon Professor Bienlein – sein Heil in der Indifferenz. In Die Juwelen der Sängerin (1962) scheitert Tims Versuch, einen Brillantenraub aufzuklären: Täterin im vermeintlichen Kriminalfall ist am Ende bloß eine diebische Elster. Doch der einst so rastlose Reporter hat sich inzwischen gelassenes Genießertum angewöhnt. Selbst öhne aufklärbaren Fall, findet er jetzt, läßt sich ein anregendes Abenteuer erleben. Man muß nur lernen, auch die falschen Fährten zu mögen.
Zweifel am Weltbild des Heiteren
In seinen letzten Comics – sozusagen der „postmodernen Phase“ – reduziert Hergé die Genre-Geschichen auf ihr bloßes Gerüst. Dies ist keine Schwundstufe seines klassischen Werks, im Gegenteil. Hergés Qualität als Erzähler kommt jetzt erstmals zur vollen Geltung. So trickreich, wie er mit offenen Enden und „falschen“ Anschlüssen spielt, erhebt Hergé den wöchentlich veröffentlichten Fortsetzungs-Comic zur eigenständigen ästhetischen Form. Aus dem im Frühwerk monoton wiederholten cliff hanger ist eine individuelle Dynamik gewachsen, die Slapstick und Suspense unentwirrbar macht. Dabei entsteht eine eigenartige Stimmung der Abivalenz: Eine unheimliche Unsicherheit, ob das übersichtliche Weltbild der Comic-Familie tatsächlich so heiter ist.
An Hergés graphischem Minimalismus haben sich Generationen europäischer Zeichner geschult. Seine erzählerische Kombinatorik hat man bis heute schlicht übersehen. Es lohnt sich, die Comics von Hergé darauf noch einmal durchzulesen. Der Hamburger Carlsen-Verlag gibt jetzt seine Gesammelten Werke in einer schön ausgestatteten, 19bändigen Ausgabe heraus. Neben den Geschichten von Tim und Struppi sind darin auch die weniger bekannten Comics enthalten: die naiven Lausbubenscherze mit Stups und Steppke ebenso wie die visionäre Kriegsgeschichte Popol und Virginia aus dem Jahre 1934 und – im soeben erschienenen ersten Band – das Frühwerk Totor von der Maikäfersippe. Der Autor und Semiotiker Benoit Peeters hat die Comics mit klugen Kommentaren und Anmerkungen umgeben, doch sind sie dabei mitnichten zu Museumsstücken geworden. Im klassischen Handlettering und mit frischen, aufgehellten Farben erscheinen die alten Geschichten wie neu.
Hergé, Werkausgabe in 19 Bänden. Carlsen Verlag, Hamburg. Bis jetzt Band eins und zwei erschienen. Bis Dezember 2000 soll monatlich ein weiterer folgen. Einzelpreis: 64 Mark, Subskriptionspreis bei Abnahme des Gesamtwerks: 48 Mark
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