piwik no script img

Sparkassenwandkalender

■ Jürgen Nagel porträtiert Dorfbewohner in Schleswig-Holstein

Wovon träumt der Großstädter ab und an? Vom Leben in ländlicher Idylle. Wenigstens auf Zeit. Der in Berlin lebende Fotograf Jürgen Nagel konnte sich dank eines Stipendiums vor zwei Jahren in den Norden aufmachen. In Cismar, einem Nest mit 750 Einwohnern in Schleswig-Holstein, wollte er Land und Leute kennenlernen. Vor allem durch die Kamera. Eindringend in fremde Lebenswelten: „Wie ein Voyeur“, schrieb Nagel im Bildband zur Ausstellung in der Fotogalerie des Kulturamtes Friedrichshain.

Herausgekommen sind 75 Porträts von Menschen wie du und ich. Immer zweimal abgelichtet, erst im Atelier vor neutralem Hintergrund, später im persönlichen Umfeld. Es war den Porträtierten überlassen, wo sie sich ein zweites Mal in Szene setzten. So erzählen die Fotos manchmal mehr als Worte. Selber schuld, fällt einem nur ein, wenn sich ein 55jähriger Bankkaufmann in der neutralen Fotovariante in Jeans und Pulli zeigt und sich dann im Anzug erwartungsgemäß neben dem Schreibtisch aufbaut. Links der Sparkassenwandkalender, rechts das Dorfwappen. Gähn. Andere Dörfler gaben sich entspannter. Die 17jährige Christin posiert erst lässig im Grunge-Look. Dann sitzt sie im Strickpullover auf ihrem Bett. Über ihr ein Poster von Kurt Cobain. Verkaufsfördernd inszenierte sich der 37jährige Keramiker Jan Kollwitz vor Proben seiner nach japanischer Technik unglasierten Keramiken. Eigentlich eine hübsche Idee, die an heiteres Beruferaten erinnert: Als was und in welchem Umfeld wird der zuvor in der weißen Ecke Abgelichtete auf dem zweiten Foto auftauchen? Doch die Bildpaare hängen zu dicht beieinander. Zudem gibt es nur spärliche persönliche Angaben, leider keine eigenen Statements, wie man das etwa von den Arbeiten gleicher Art von Bernd Lasdin kennt. Und in zehn Jahren wieder nach Cismar, um zu sehen, was aus den Menschen geworden ist? „Schöne Idee“, sagt Nagel am Telefon, „aber das liebe Geld.“ Einige der Bilder geben Rätsel auf. Erst ist ein Rentner in Jägerkluft zu sehen, dann sitzen plötzlich drei höchst unterschiedliche Menschen am Tisch. Emil Glaser, 67 Jahre, hat sich mit seiner Freundin, einer 33jährigen Witwe, fotografieren lassen. Seine Ehefrau wohnt nebenan und kommt öfter zu Kaffee und Kuchen vorbei. Das bekam auch der Fotograf serviert. Denn der vermeintlich Fremde war keiner, weil er länger blieb als übliche Gäste. Der 56jährige war Menschen und ihren Geschichten auf der Spur. Nagel entdeckte Exoten mitten in einem ganz beliebigen Dorf. Einen Vogelspinnenzüchter, den alten schrulligen Apfelzüchter oder die patente 88jährige Dame, die ganz allein seit Jahrzehnten eine kleine Pension schmeißt. Sie setzte sich fürs Foto vor tapetene Palmenlandschaft. Cismar: ein ganz normales Dorf eben. Und doch wieder nicht. Überall gibt es Menschen, die aus dem Raster dessen, was als „normal“ gilt, fallen. In der Stadt wie auf dem flachen Land. Überhaupt: Sind wir nicht alle ein bißchen Cismar?

Andreas Hergeth

Bis 31. Juli, Di. bis Sa. 13 bis 18, Do. 10 bis 18 Uhr, Fotogalerie des Kulturamtes Friedrichshain, Helsingforser Platz 1

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen