: Im Landgericht wird eine Märtyrerin geboren
■ Seit Anfang Juli findet vor der Staatsschutzkammer ein grotesker Prozeß statt. Die 30jährige Nuran A. sitzt seit drei Monaten in Untersuchungshaft, weil sie den Staat verunglimpft haben soll. Sie schweigt zu den Vorwürfen, befragt die Zeugen aber ausdauernd
Mit bürgerlichen Namen heißt sie Nuran A., aber ihre Unterstützer nennen die 30jährige Frau „More Keskin“. Die in Deutschland geborene Tochter kurdisch-türkischer Eltern muß sich seit Anfang Juli vor der Staatsschutzkammer des Landgerichts wegen angeblicher Verunglimpfung des Staates verantworten. Obwohl die Vorwürfe dies nicht im geringsten rechtfertigen, sitzt die Angeklagte seit annähernd drei Monaten in Untersuchungshaft. Ihre Anhänger, die der maoistisch orientierten RIM (Revolutinary International Movement) zugerechnet werden, sind deshalb auf dem besten Wege, sie zu einer Märtyrerin zu stilisieren.
Die Vorwürfe gegen Nuran A.: Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole, Volksverhetzung und Verstoß gegen das Versammlungsgesetz. Am 20. April 1993 soll sie bei einer Demonstration durch ein Megaphon „Deutsche Polizisten, Mörder und Faschisten“ gerufen haben. Die Parolen„Deutschland verecke“ und „Deutsche Polizisten üben fleißig für ein neues 33“, soll sie am 1. Mai 1994 – wiederum bei einer Demonstration und wiederum über Lautsprecher – skandiert haben. Außerdem soll sie den Deutschlandsong der Punkband Slime mit dem Refrain „Deutschland muß sterben, damit wir leben können“, abgespielt haben.
Die Staatsanwaltschaft ist der Auffassung, daß das öffentliche Abspielen dieses Songs eine Verunglimpfung des Staates darstellt, obwohl das Lied nicht indiziert und frei verkäuflich ist. Des weiteren werden Nuran A. zwei Verstöße gegen das Versammlungsgesetz im Mai 1995 zur Last gelegt: In dem einen Fall soll sie eine Fahne, in dem anderen ein Fähnchen der verbotenen ERNK, einer Unterorganisation der PKK, geschwenkt haben.
Am 1. August wird Nuran A. auf den Tag genau drei Monate in Untersuchungshaft sitzen. Eine Haftverschonung wurde ihr bislang nicht zuteil, obwohl sie einen festen Wohnsitz und eine Anstellung in einem Café nachweisen kann und sogar eine Kaution angeboten hat. Der Grund: Sie war dreieinhalb Jahre per Haftbefehl gesucht worden, nachdem sie zu dem ursprünglich im Herbst 1995 anberaumten Gerichtsverfahren nicht erschienen war. Damals hatte sie sich mit einem ärztlichen Atttest krank gemeldet.
Ihr Verteidiger Ingo Schmitt-Reinholtz ist der Überzeugung, daß es in dem Prozeß um „rein generalpräventive Erwägungen“ geht. Die bei der Polizei als Demonstrations-Aktivistin verschriene Nuran A. „soll einmal durch die Mühlen der Justiz gedreht werden, um ihr zu zeigen, wo der Hammer hängt“, meint er.
Die Angeklagte selbst schweigt zu den Vorwürfen, macht dafür aber ausführlich von ihrem Recht Gebrauch, die Zeugen zu befragen. Das macht die Frau, die kaum größer als 1,65 Meter ist, so selbstbewußt und enervierend, daß dem Vorsitzenden Richter Hans-Jürgen Brüning immer wieder der Geduldsfaden reißt. Der sich mühsam von Verhandlungstag zu Verhandlungstag schleppende Prozeß ist ein klassisches Bespiel für Ressourcenverschwendung der Justiz. In Zeiten, in denen keine Gelegenheit ausgelassen wird, um die Überlastung zu beklagen, beschäftigen sich fünf Richter wochenlang mit Parolen, die in der Hauptstadt seit Jahrzehnten zum Repertoire linker Demonstranten gehören. „Ja“, antwortete ein als Zeuge vernommener Polizist im Prozeß auf die Frage, ob er solche Äußerungen bei Einsätzen schon öfters gehört habe. „Aber nicht in so einer Häufung“, schob er schnell nach. „Diese Stimme war nicht unbekannt“, sagte ein anderer Polizist. „Ich habe sie 1994 mehrmals bei Demonstrationen gehört.“ Eine weibliche Person habe vom Lautsprecher aus die Stimmung regelrecht „geschürt“.
„Ich muß mich beleidigt fühlen, wenn mein Berufsstand so beschimpft wird“, sagte der nächste Polizeizeuge. Verteidiger Schmitt-Reinholtz sieht das anders. Ein Berufsstand als solcher könne nicht beleidigt werden, sondern nur eine konkrete Einzelperson. Gedeckt sei dies durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das vor Jahren entschieden hat, das Tucholsky-Zitat „Soldaten sind Mörder“ falle unter die Meinungsfreiheit.
Zum Song der Punkband Slime hat der Verteidiger unter anderem beantragt, die Punkband selbst als Zeugen zu laden. Die Musiker würden bekunden, daß sich der Refrain „Deutschland muß sterben, damit wir leben können“, auf eine bis Anfang der 90er Jahre andauernde „kulturpolitische Auseindersetzung um ein Soldatendenkmal“ in Hamburg beziehe, das während der Zeit des Nationalsozialismus errichtet wurde. Eine Entscheidung über den Antrag steht noch aus.
ln einem Punkt hat der Anwalt immerhin schon einen kleinen Erfolg errungen. Am vergangenen Prozeßtag regte das Gericht an, die Vorwürfe wegen der ERNK-Fahnen einzustellen. Die Verteidigung hatte ein Video-Print vorgelegt, aus dem hervorgeht, daß es sich bei der fahnenschwenkenden Person in dem Polizeivideo nicht um Nuran A. handelt. Ob die Staatsanwaltschaft einwilligt, wird sich morgen zeigen. Dann wird der Prozeß fortgesetzt. Plutonia Plarre
Fünf Richter beschäftigen sich wochenlang mit Parolen, die seit langem zum Repertoire linker Demonstranten gehören
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