piwik no script img

Ein Viertel mit Schieflage

In der Neuköllner „High-Deck-Siedlung“ läuft seit einem Monat das Pilotprojekt einer Polizei-Kiezsprechstunde. Doch das Problem der „überforderten Nachbarschaften“ wird dadurch auch nicht gelöst   ■  Von Barbara Bollwahn de Paez Casanova (Text) und Rolf Zöllner (Fotos)

Die beiden Polizisten Erik Günzel und Martin Rehberg haben hinter einer Blumenhecke Stellung bezogen. Ausgerüstet mit Handy, Dienstpistole, Taschenlampe und einigen Unterlagen harren sie der Dinge, die da kommen. Es ist der vierte Mittwoch in Folge, an dem sie zwischen 13 und 15 Uhr am gleichen Ort sitzen und auch dieses Mal nicht genau wissen, was passieren wird. Was sie tun, hat niemand vor ihnen getan.

Sie sind die ersten beiden Kontaktbereichsbeamten in Berlin, die den Mietern einer Wohnanlage direkt vor die Nase gesetzt werden. Der Kob zum Anfassen sozusagen. Seit Anfang Juli sind sie einmal in der Woche im „Kiezbüro“ in der Neuköllner „High-Deck-Siedlung“, einer Mitte der 70er Jahre errichteten Wohnanlage aus Betonfertigteilen, deren Namen sich von der Bauweise im Zweidecksystem ableitet. Im unteren Deck fahren und parken die Autos, das obere Deck ist den Mietern vorbehalten, die auf Betonbrücken zu den vier- bis sechsgeschossigen Wohnhäusern gelangen.

Zwar sitzen die Kontaktbereichsbeamten Günzel und Rehberg direkt im Zentrum der Siedlung – in einem vom Quartiersmanagement bereitgestellten Raum – doch hinter den üppigen Pflanzen vor dem Fenster sind sie von außen nicht zu sehen, und das kleine Schild an der Tür „Kiezsprechstunde“ wird kaum wahrgenommen. So ist es nicht verwunderlich, daß von den etwa 5.600 Bewohnern, die mit Postwurfsendungen über den „Bürgerservice der Polizei“ informiert wurden, bisher nur etwa 10 vorbeigeschaut haben – wegen Kleinigkeiten wie Ruhestörungen und Kellereinbrüchen.

Der geringe Zulauf mag daran liegen, daß die „High-Deck-Siedlung seit geraumer Zeit mit Problemen zu tun hat, für die die Polizei einfach nicht zuständig ist. Zwar liegt der Ausländeranteil mit etwa 23 Prozent niedriger als in anderen Teilen Neuköllns, doch problematisch ist, daß der Anstieg für viele deutsche Mieter zu schnell kam.

Einzelne Wohnblöcke drohen zu kippen

Zugleich ist die Arbeitslosenquote stark gestiegen. Noch liegt der Anteil der Sozialhilfeempfänger „nur“ zwischen 30 und 40 Prozent. Doch die Folgen sind jetzt schon nicht mehr zu übersehen. Einzelne Wohnblöcke drohen zu kippen. Das heißt, Nachbarn reden nicht mehr miteinander, sondern beschimpfen oder bedrohen sich. Der Müll wird im Treppenhaus entsorgt, Fahrstühle werden zum Pinkeln benutzt.

Deshalb will Familie Lindner weg aus der Siedlung. „Unsere Kinder werden hier zu Stubenhokkern“, schimpft der 39jährige Peter Lindner. Die Söhne, der 5jährige Kay und der 8jährige Kevin, würden beim Fußballspielen laufend von ausländischen Jugendlichen mit dem Messer bedroht, so daß sie den Ball immer öfter zu Hause lassen würden. „Die ziehen selbst mir gegenüber das Messer“, erzählt er weiter. Doch er könne sich im Vergleich zu seinen Söhnen zur Wehr setzen. Im Notfall zieht auch er ein Messer, das er am Gürtel trägt und eigentlich nur zum „Appelschneiden“ benutzt, wie er betont. Seine Frau Gabriele beklagt, daß auch viele Grünflächen tabu seien. „Hunde dürfen drauf scheißen“, sagt die 34jährige Hausfrau, „doch die Kinder werden von den Mietern weggeschickt.“ Nicht mal das Malen mit Straßenkreide erlaube man den Kindern. „Wir wollen weg“, ist das Resümee der Familie nach nur einem Jahr. Die arbeitslosen Lindners waren vor einem Jahr aus der Lüneburger Heide zurück nach Berlin gekommen, nachdem es dort mit einem Neuanfang nicht geklappt hat. Vorher haben sei in Lichtenrade gewohnt. „Dort spielten die Kinder mit Ausländern, aber hier, die haben eine volle Klatsche“, sagt Gabriele Lindner.

Zog es anfangs viele Bedienstete des öffentlichen Dienstes und andere Vertreter der Mittelschicht in die Siedlung an der ehemaligen grünen Grenze zu Ostberlin, ist aus dem damaligen Gefühl des sozialen Aufstiegs ein Gefühl des An-den-Rand-gedrängt-Werdens geworden. Mittlerweile ziehen selbst viele türkische Mittelschichtfamilien weg. Weil die Wohnungsbaugesellschaft „Stadt und Land“ als städtisches Wohnungsunternehmen verpflichtet ist, am Wohnungsmarkt Benachteiligte unterzubringen, und die Warmmieten mit etwa 15 Mark pro Quadratmeter nicht gerade billig sind, scheint eine Steuerung der Belegung schwierig. Zudem haben die Mietarbeiter der Wohnungsbaugesellschaft nach Angaben des Sozialmanagers Peter Boltz durch den hohen Mieterwechsel der vergangenen fünf Jahre „einen verstärkten Arbeitsanfall“ und seien mit den ethnischen und den Armutsproblemen oftmals überfordert.

Trotz der Probleme gibt es viele alteingesessene Mieter, die nicht wegwollen. Dazu gehören die drei älteren Herrschaften, die die einzigen Besucher des Kiezbüros der Polizei an diesem Mittwoch nachmittag sind. Weil sie ihren Teil dazu beitragen wollen, daß es nicht schlimmer wird in ihrem Viertel, erzählen sie den Kontaktbereichsbeamten ihre „Beobachtungen von leicht verdächtigen Jugendlichen“. Ihr Verdacht: Drogen. Denn fest stehe, daß mittlerweile auch Rauschgift „hier zu Hause“ sei und Vandalismus und die Rücksichtslosigkeit der Leute zugenommen habe, kurz: „die soziale Durchmischung fehlt“, wie einer von ihnen, ein pensionierter Feuerwehrmann sagt. Weil eine Nachbarin schon einmal von Jugendlichen mit einem Messer bedroht wurde, begrüßen sie das Kiezbüro der Polizei aufs heftigste.

Waffen und Rauschgifte werden hier gehandelt

Auch dem 29jährigen Türken Ceylan, der seit 12 Jahren in der Siedlung wohnt und seit vielen Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft hat, macht die Entwicklung des Viertels Sorgen. „Hier werden Waffen und alles mögliche gehandelt“, klagt er. Vor zehn Jahren sei es noch eine schöne Gegend gewesen. Sein Resümee heute: „Das kann man vergessen hier.“

Eine Meinung, die der 18jährige Andy und der 17jährige Dirk, die beide in der Siedlung groß geworden sind, überhaupt nicht teilen. Beschwerden von Bewohnern über Ruhestörungen können sie nicht nachvollziehen. Statt dessen beklagt Andy, daß deutsche Mieter Bänke mit Honig beschmieren würden, um Jugendliche fernzuhalten. Auch die Klagen von Deutschen über Ausländer kann er nicht verstehen. „Ich bin überwiegend mit Ausländern groß geworden“, sagt er. Daß unter seinen Freunden nur wenige Deutsche sind, hört man an seiner Sprache. Die klingt zwar perfekt Deutsch, hat aber einen Akzent. Sein Kumpel Dirk klagt darüber, daß er ständig von der Polizei, die immer dienstags und donnerstags mit einer Wanne vor dem Einkaufszentrum „Sonnencenter“ präsent ist, nach dem Ausweis gefragt werde. Seitdem sich Jugendliche im Anschluß an ein Sommerfest Anfang Juli, bei dem erstmals auch die Polizei mit einem Stand präsent war, mit Beamten geprügelt hätten, seien die Kontroller „verschärfter“ geworden. Von dem Kiezbüro halten beide nichts. „Ob die hier sind oder nicht, ist egal“, sagt Andy. „Die werden nicht viel ändern.“ Bei einer Anwesenheit von zwei Stunden die Woche könnten die Beamten „die Kriminalität nicht sehen“:

Dabei ist die Kriminalität nicht das Hauptproblem in der Siedlung. Innerhalb der Polizeistatistik wird das Gebiet nicht separat ausgewertet. Als kleinste Einheit ist das Gebiet zwischen Dammweg, Grenzallee, Bezirksgrenze zu Treptow und Neuköllnischer Allee erfaßt, wo etwa 8.800 Menschen leben, 5.600 davon in der „High-Deck-Siedlung“. Zwischen Januar und Mai dieses Jahres sind die Straftaten im Vergleich zum Vorjahreszeitraum zum Teil deutlich zurückgegangen. Lediglich die Zahl der Diebstähle aus Kraftfahrzeugen und von Kellereinbrüchen ist erheblich angestiegen.

Die Soziologin Marina Buhtz, die seit Anfang des Jahres im Quartiersmanagement arbeitet, sieht das Hauptproblem der Siedlung darin, daß diese in die Jahre gekommen ist. „Schon allein deshalb besteht Handlungsbedarf“, sagt sie. Zudem konstatiert sie eine „gewisse Schieflage“ im Viertel, die darauf zurückzuführen sei, daß bis Anfang des Jahres nur Mieter mit Wohnberechtigungsschein zuziehen konnten. Nachdem im Januar die Fehlbelegungsabgabe für drei Jahre ausgesetzt wurde, hofft sie, durch Verbesserungen im Wohnumfeld und Mietergespräche ein Abkippen zu verhindern. Weil die Bewohner, die aus etwa 30 verschiedenen Herkunftsländern kommen, „völlig verschiedene Kulturen und Lebensgewohnheiten haben“, sei es wichtig, „eher kleinräumig“ tätig zu werden, das heißt, die Hausgemeinschaften zu stärken. Nachdem viele ausländische Mieter den ersten größeren Veranstaltungen fernblieben, wurde die zweite Ausgabe der Quartiersmanagement-Zeitung zum Teil in türkisch und arabisch gedruckt. Doch eins weiß die Quartiersmanagerin genau: „Wir alleine können die Probleme auch nicht lösen.“ Es müsse darum gehen, die verschiedenen Aktivitäten zu vernetzen.

„Gehversuche“ des Zusammenlebens entstehen

Sozialmanager Peter Boltz glaubt nicht, daß die Kulturunterschiede die entscheidende Rolle spielen. Zwar seien die Türken „geduldiger“ im Ertragen von Mißständen und die Deutschen „schnell abgegessen“, doch letztendlich hätten sie doch eins gemeinsam: „Ihre Klagen über Verarmung und Verwahrlosung sind identisch.“ Doch da hören die Gemeinsamkeiten schon auf. Problematisch sei „das direkte Zusamenleben“. Boltz zitiert den Begriff der „überforderten Nachbarschaften“, die dazu führen könnten, daß einzelne Hausaufgänge „kippen“. Der Sozialmanager kritisiert, daß es früher „eine stärkere Tradition“ gegeben habe, auf Ausländer zuzugehen. „Das wurde vernachlässigt.“ Nun sei man dabei, „einzelne kleine Gehversuche“ zu unternehmen. Dazu gehören Übersetzungen der Hausordnung in mehrere Sprachen.

Als weiteren kleinen Gehversuch könnte man den Job der beiden Kontaktbereichsbeamten sehen. „Wir sind zwar nur wenige Stunden hier“, sagt Martin Rehberg, „doch in der Zeit sind wir immer erreichbar.“ Aber sein Optimismus hält sich in Grenzen. „Wir müssen mit dem leben, was wir haben“, sagt der 52jährige. Sein Kollege Günzel, der 27 seiner 34 Jahre in Neukölln gelebt hat, hofft dennoch, daß das Kiezbüro dazu beitragen kann, das Viertel vorm „Umkippen“ zu bewahren.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen