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■ Ignatz Bubis' Probleme mit der deutschen GegenwartVergebens gearbeitet?

Das Bekenntnis von Ignatz Bubis, „Ich habe fast nichts bewegt“, in einem Stern-Interview erinnert an den berühmten Ausspruch „Vergebens gelebt und gearbeitet“ des Schriftstellers Berthold Auerbach, den dieser 1880 nach einer der zahlreichen Antisemitismus-Debatten im Berliner Abgeordnetenhaus in einem Brief machte. Der Unterschied der beiden Formulierungen liegt vielleicht nur darin, dass Ignatz Bubis verglichen mit Berthold Auerbach sein Scheitern beziehungsweise seine Frustrationen nicht in einem persönlichen Brief, sondern als Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland vor aller Öffentlichkeit kundgetan hat.

Der Antisemitismus des Kaiserreichs, der Berthold Auerbachs Leben vergiftete, war unangenehm, aber vergleichsweise harmlos gegenüber dem Vernichtungsantisemitismus der Nazis, der sechs Millionen Menschen das Leben kostete und unter dessen traumatischen Nachwirkungen die Überlebenden des NS-Terrors heute noch leiden. Bei der Erörterung von Ignatz Bubis' Vorwürfen sollte das berücksichtigt werden. Ignatz Bubis ist ein Überlebender, dem es wie anderen Überlebenden schwer gefallen ist, mit seinen Erinnerungen an die NS-Zeit im Nachkriegsdeutschland Fuß zu fassen.

Bei allem Respekt gegenüber den tragischen Umständen seiner Biografie muss es aber erlaubt sein, Ignatz Bubis die Frage zu stellen, ob er nicht mit seinen Unterstellungen über das Ziel hinausschießt. Die Behauptung, die deutsche Gesellschaft sei nach wie vor gefährdet, und zwar deshalb, weil sie eigentlich nichts aus der Geschichte gelernt habe, bedarf einer genaueren Prüfung. Zugegebenermaßen gibt es heute immer wieder Vorkommnisse, die Sorgen bereiten. Man denke an eigenbrötlerische Schriftsteller wie Martin Walser, die propagieren, dass man bei unangenehmen Angelegenheiten besser wegsähe. Oder an rechtsradikale Skinheads, die auf den Straßen Passanten anpöbeln, „Juden raus!“ brüllen und Steine auf Friedhöfen mit NS-Symbolen beschmieren.

Sind das aber wirklich reale Gefahren für unsere Gesellschaft? Müssen wir uns deshalb ängstigen? Steht unsere Gesellschaft vor einem Umkippen in undemokratische Verhältnisse? Ganz sicher nicht. Es gibt zwar einen Bodensatz rechtsradikaler und antisemitischer Gesinnung, der bei verwirrten Intellektuellen oder bei Skinheads und Ewiggestrigen festzustellen ist. Das sind Erscheinungen, die wir ernst nehmen müssen, aber wir sollten uns davor hüten, sie überzubewerten. In allen europäischen Ländern gibt es heute einen konstanten Prozentsatz Rechtsradikalismus. Man hat aber gelernt, damit umzugehen. Nur in Deutschland reagiert man darauf hysterisch. Mehr Gelassenheit wäre angebrachter.

Erstaunlich ist etwas anderes. Ignatz Bubis hat die ihm aufgedrängte Rolle einer moralischen Instanz verinnerlicht. Problematisch ist, dass er dabei Schlüsse zieht, die er für sich persönlich ziehen kann, nicht aber in seinem Amt als Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland. Er mag zwar bedauern, dass es ihm nicht gelungen ist, die Verantwortung für Auschwitz im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. Aber wer hat das überhaupt von ihm verlangt? Und maßt er sich da nicht etwas an, was gar nicht zu seinen Aufgaben gehört? Ignatz Bubis ist ganz sicher nicht der Praeceptor Germaniae, sondern der Sprecher der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland – und hat damit die Aufgabe, sich in erste Linie für die Anliegen der in Deutschland lebenden Juden einzusetzen. Nicht mehr und nicht weniger.

Die hitzige Debatte um das Holocaust-Denkmal in Berlin beweist, dass die deutsche Gesellschaft sich der Hypotheken durchaus bewusst ist, mit denen sie zu leben hat. Nie zuvor hat es eine Zeit gegeben, in der ein solches Interesse für die deutsch-jüdische Beziehungsgeschichte vorhanden gewesen ist wie heute. Das ist gut so und ein Schritt auf dem Weg zur Normalisierung des deutsch-jüdischen Verhältnisses. Dazu gehört auch, dass Bürger dieses Landes eigene und durchaus unkonforme Ansichten über die NS-Vergangenheit äußern können. Das ist durchaus normal – und darf nicht a priori als negativ angesehen werden. Julius H. Schoeps

Leiter des „Moses Mendelssohn Zentrums“ in Potsdam und Mitglied der Repräsentantenversammlung der Jüdischen Gemeinde in Berlin

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