: Der unfreiwillige 100-Meter-Weltrekordler
■ Vor 40 Jahren stand der einstige Fassmacher Hermann Siemering wegen seiner politischen Neigungen vor Gericht. Heute lediglich vor dem Mikrofon. Im Offenen Kanal watscht er das Neue-Mitte-Gefasel gekonnt ab
Im Alter von vierzehn Jahren beschloss er, die sonntäglichen Gottesdienste fürderhin zu meiden. Was Hermann Siemering aber heute nicht davon abhält, seit fünf Jahren selber Predigten zu halten, „Hermann's Hyde Park“, jeden dritten Dienstag im Monat, zwischen 19 und 19.24 Uhr im TV des Offenen Kanals. Es sind politische Predigten. Und es sind kluge Predigten.
Den Kirchendispens hatte er sich einst beim Vater durch eine Stunde Holzhacken zu verdienen; schließlich musste gewährleistet sein, daß der DummJung nicht einfach aus schnöder Faulheit den Gottesdienst bestreikt, sondern aus Überzeugung. Überzeugung ist Siemerings Stärke, noch heute. Allerdings zwingt sie ihn heute nicht mehr, zur Axt zu greifen, sondern spielt ihm einen Stift der Marke Faber-Castell in die Hände. Die Farbe: Neongelb.
So bewaffnet arbeitet er sich Tag für Tag durch die Politik- und Wirtschaftsseiten der „Bremer Nachrichten“, unterstreicht, sammelt. Er hat nur diese Zeitung abonniert, ganz einfach, „weil meine Rente für mehr nicht reicht“. Aber auch in einer konservativen Zeitung steht im Großen und Ganzen alles drin. Zum Beispiel über Experimente mit biologischen Kampfstoffen an Häftlingen in den USA im Kalten Krieg, über den wachsenden Anteil, den der kleine Mann zum gesamten Steuervolumen beiträgt und über das Wachsen und Gedeihen der großen Vermögen, während die kleinen stagnieren, sprich über jene wachsende Ungerechtigkeit, die Siemering ungeniert „Klassenkampf von Oben“ nennt. Zack, zack, zack – und der Markerstift läßt die spießige Zeitung plötzlich gelb aufschreien vor Empörung.
Hermann Siemering und seine Ehefrau sind Sammler. Sie sammeln schöne Sachen (Muscheln, alte Familienfotos und Berge von Stickern von Anti-AKW-Demos und DKP-Meetings oder gegen den Vietnamkrieg), sie sammeln weniger schöne Sachen (etwa eine Serie von Weihnachtstellern aus Zinn mit viel Glockengebimmel), und sie sammeln widerwärtige Sachen. Zum Beispiel Parteiprogramme. Und da steht dann zum Beispiel drin, dass die SPD zur letzten Bundestagswahl die Wiedereinführung der Vermögenssteuer versprochen hat, ganz feste, ganz ehrlich. Eine Tatsache, die vermutlich all die Politikjournalisten, die es eigentlich anginge, längst vergessen haben. Doch Siemering rettet mit seinem wohlgeordneten Ablagesystem die Tagespolitik vor dem Vergessen.
Er trägt alle Zahlen, Daten, Fakten zusammen, welche die herrschende Marschroute Richtung Sozialabbau dokumentieren. Denn was in eine Fernsehkamera gesprochen wird, muß dieselbe Gültigkeit haben wie die Zehn Gebote. „Was gesagt ist, ist gesagt. Das ist im TV anders, als wenn ich eine Gewerkschaftsrede halte, wo man anschließend noch debattieren und präzisieren kann.“ Deshalb wimmeln Siemerings TV-Vorträge von Zeitschriftenzitaten mit Datumsangaben. Und er flickt schon mal ein relativierendes „in meinen Augen“ oder „meiner Meinung nach“ ein.
Die typischen „Bremer Nachrichten“-Leser haben sich an Meldungen über Rentenabbau hier, Gewinnsteigerung dort gewöhnt, finden das normal. Schließlich erklären Politiker und Presse die ganzen Schweinereien für „modern“, „realitätssinnig“, „unideologisch“, „vom Sachzwang aufgenötigt.“ Mit einem Humbug dieses Kalibers hat Helmut Kohl mal den Siemering 50 Stunden harte Arbeit am Schneidetisch im Studio des Offenen Kanals gekostet. Kohl: Abschaffung des Kindergelds für Schwerreiche sei „nicht machbar, nicht vernünftig“. Schnitt. Siemering: „Ja, wieso denn nicht?“ Und dieses hartnäckige, bohrende, empörte „Ja, wieso denn eigentlich?“ steht in den „Bremer Nachrichten“ eben nicht. In derselben Hyde-Park-Corner-Predigt gibt Siemering noch all jenen lahmarschigen Journalistenkollegen, die einen Kohl vors Mikro bekommen, mit auf den Lebensweg: „Da müsste man einfach mal genauer nachfragen.“ Aber wer genauer nachfragt, landet eben nicht bei ARD oder ZDF, sondern im Offenen Kanal. „Die herrschende Meinung ist die Meinung der Herrschenden“, zitiert Siemering den ollen Marx.
„Das Kapital“ am Stück gelesen hat er nie. Aber seit den Lektüre-abenden bei der FDJ in frühen Teenie-Tagen schmökert er immer wieder gerne darin. Ein Rentner, der bei Marx, Luxemburg, Engels, Bebel und immer wieder beim heißgeliebten Tucholsky nachschlägt – dahinter muss doch etwas stecken. Ja, eine lange Biografie. Und die ist ein Musterbeispiel dafür, was es heißt, in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung aufzuwachsen, so mit Chancengleichheit, freier Lebensgestaltung und all dem Zeugs, auf das „wir“ so stolz sind.
Siemering ist Jahrgang 1932. Bis 1947 brachte er es auf fünf Schuljahre. Denn das Elternhaus wurde drei Mal ausgebombt und die Kinderlandverschickung verpflanzte ihn mal nach Sachsen, mal in ein Kaff bei Göttingen. Und im Wahnsinnswinter 46/47 fror die Weser zu, und der Unterricht fiel aus. Die Mutter mochte nicht weiter mitansehen, wie der Jung' auf dubiosen Kanälen Mehl auftrieb und beim Bäcker gegen Brot eintauschte. Eine Lehre musste her, möglichst irgendwas mit Holz. Und weil der Kunsttischler einem anderen Buben den Vorzug gab, weil der ein paar Stück Schinken mitbrachte, wurde Siemering eben Böttcher, Fassmacher. Noch heute sieht das Haus des Ehepaars Siemering in Findorff aus wie das Innere eines Fasses – eines reichverzierten allerdings.
Am 1.4.1947 fing die Lehre an. Am 5.4. war Siemering Gewerkschaftsmitglied. Aus den Kriegszeiten nahm er eine gehörige Portion Pazifismus mit. Unschön fand er, dass französischen und polnischen Kriegsgefangenen eine völlig unterschiedliche Behandlung verpasst wurde – und die russischen meist verreckten. Und dass man ihm, dem 13jährigen, eine Panzerfaust in die Hand drückte, um eine winzige Provinzbrücke gegen den Feind von der anderen Seite des Atlantiks zu verteidigen, gefiel ihm nicht besser. Nach Gastspielen im Ami-Club um die Ecke und bei der SPD-Jugend „Freundschaft“ schloß er sich der FDJ an, weil die die drohende Remilitarisierung der BRD eisern bekämpfte. Ihre Diffamierung als U-Boot des Ostblocks, fand er immer ziemlich albern. Albern fand er auch, dass sie 1952 verboten wurde. Und dass er 1958 zu drei Monaten Haft verurteilt wurde, die auf drei Jahre Bewährung ausgesetzt wurden. Wegen Rädelsführerschaft in einer verbotenen Vereinigung. Aber immerhin: „In Bremen waren die Richter in Ordnung. Im Vergleich zu Niedersachsen urteilten sie butterweich.“ Sein Verteidiger war übrigens der spätere Meinhof-, Proll- und Modrow-Anwalt Heinrich Hannover, dessen zweiten Band seiner bundesdeutschen Justizgeschichte wir demnächst besprechen werden.
Am 11. Mai 1952, ein Sonntag, der später als Blutsonntag in die Geschichte eingehen sollte, fuhr Siemering nach Essen, um Pastor Niemöllers Rede gegen die Remilitarisierung zu erleben. Dass die Demo am Abend zuvor um 23 Uhr verboten wurde, bekam er nicht mehr mit. Dafür aber wie die Polizei tags darauf scharf geschossen hat. Deutschland bekam seinen ersten Demo-Toten, und Siemering stellte – die kläffenden Bluthunde der Polizei im Rücken – einen neuen inoffiziellen Sprintweltrekord auf. „Ich schätze um die neun Sekunden auf 100 Meter.“
Der gesellschaftskritische Horizont des Lehrlings wuchs irgendwie zwangsläufig über den Pazifismus hinaus. Zum Beispiel durch einen diktatorischen Lehrherren oder durch eine Plackerei, die weit über tarifliche Arbeitszeit hinaus andauerte – täglich über drei Stunden mehr. Dass sich Siemering zu wehren wusste, bezahlte er bald mit Kündigung. Und mit verstecktem Arbeitsverbot. Keine einzige Böttcherei in und um Bremen wollte einen Gewerkschafter, der sich für seine Rechte und die der Kollegen engagierte. Also kam Siemering ins sogenannte Notstandsarbeitsprogramm und pflügte neue Wege durch den Bürgerpark – irgendwie ABM-mäßig (es gibt eben nichts Neues unter der Sonne). Ab 1952 arbeitete er als Springer im Hafen. Das heißt er musste täglich um fünf Uhr morgens da sein, um vielleicht – wenn gerade Not am Mann war – ab sechs Uhr zwei Zentner schwere Säcke schleppen zu dürfen. Im August 1955 hatte er endlich seine feste Stelle am Hafen. Zwei Monate später war er sie wieder los. Denn wer war beim zweiten großen Hafenstreik mit in der Streikleitung? Genau. Und es war ein wilder Streik, der nicht von der Gewerkschaft abgesegnet war. Die wollte ihn rauswerfen. Doch Siemering kam einem Ausschlussverfahren der für den Hafen zuständigen Gewerkschaft zuvor und schmuggelte sich wieder in die fürs Holz zuständige ein. Noch heute zahlt er seine Beiträge. Obwohl er im 60. Lebensjahr dieser unfreundlichen Arbeitswelt Ade gesagt hat. Und obwohl sein Verhältnis zu den allzu kompromisswilligen Gewerkschaften mit ihren Bonzen gespalten ist. „Bündnis für Arbeit: Das kenn ich schon seit den 50er Jahren, unter verschiedenen Namen, aber mit immer den selben unerfreulichen Ergebnissen.“ Im Unterschied zu den Neue-Mitte-Euphorikern hat er kein besonders ausgelassenes Verhältnis zu Gegenwart und Zukunft. Wie man die Unmengen an Ungerechtigkeit hier und in der „Dritten Welt“ einfach übersehen kann, ist ihm schleierhaft. Außerdem: „Die heutige Generation wird nicht sagen können: Sorry, wir habens ja nicht gewusst.“
Ob er wohl unglücklich war über Lafontaines Rücktritt. „Nein. Ich habe ihn erwartet. Außerdem: Auch ein Lafontaine an Schröders Seite hätte ,Hermann's Hyde Park' leider nicht überflüssig gemacht.“ Und so schnippelt er wohl noch lange Zeitungsausschnitte aus und stellt sich einmal im Monat um 17 Uhr 30 im Sendestudio ein, satte 90 Minuten vor der Sendung. Denn „ich bin nach wie vor aufgeregt, und muß mich an den Raum immer aufs Neue gewöhnen.“ Eineinhalb Tage braucht Siemering für die Vorbereitung einer Rede über Kirche und Abtreibung, den Streit ums Kreuz in bayerischen Schulzimmern oder die Verarschung der Lohnarbeiter. Aber auch sonst arbeitet die Politik in seinem Schädel, vorzugsweise bei den Waldspaziergängen, draußen, bei seiner Tochter. Die TV-Arbeit ist für ihn eine Möglichkeit, den Kopf in Schuß zu halten. Und wenn er mal nicht an Schröder denkt, ist er sogar ein fröhlicher, optimistischer Mensch. bk
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