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Perspektive: Angriffsheer

Bereits 1925 plante der Generalstab der Reichswehr den Ausbau des 100.000-Mann-Heeres auf die 28-fache Größe. Offiziere waren die treibende Kraft hinter der Militarisierung der Weimarer Republik.    ■ Von Wolfram Wette

Im März 1997 veröffentlichten Carl Dirks und Karl-Heinz Janssen in der Zeit einen aufsehenerregenden Beitrag mit dem Titel „Der große Plan“. Gemeint war eine Geheimstudie der Reichswehr aus dem Jahre 1925 über die künftige deutsche Aufrüstung. Der Hamburger Schifffahrtskaufmann Dirks hatte das umfangreiche Dokument in den National Archives in Washington entdeckt, zu entschlüsseln vermocht und dem Zeitgeschichte-Redakteur der Zeit, Janssen, angeboten, seine in jahrzehntelanger Arbeit gesammelten Dokumente über die geheimen Rüstungspläne der Reichswehr gemeinsam zu veröffentlichen. In dem Buch „Der Krieg der Generäle“ werden die Früchte dieser Zusammenarbeit jetzt der Öffentlichkeit vorgestellt.

Worin besteht die politische und historiographische Brisanz des sogenannten „großen Plans“ von 1925? Im Auftrage des damaligen Chefs der Heeresleitung, Generaloberst Hans von Seeckt, aber hinter dem Rücken der Reichsregierung und des Parlaments entwarf eine Gruppe von 14 jüngeren Generalstabsoffizieren der Reichswehr ein Stärke-, Gliederungs- und Ausrüstungskonzept für eine Armee, die 28-mal größer werden sollte als das von den Siegern des Ersten Weltkrieges zugestandene 100.000-Mann-Heer. In die Augen springt der schwerlich nur zufällige Tatbestand, dass am 1. September 1939, als Hitler mit dem Angriff auf Polen den Zweiten Weltkrieg entfesselte, ein deutsches Heer mit eben diesem Volumen bereit stand. Das bedeutet nicht unbedingt, dass rund eineinhalb Jahrzehnte lang auf der Basis dieses Planes gerüstet wurde – wohl aber, dass die Rüstungsplaner der 30er-Jahre eine entsprechende Orientierung hatten.

Kritiker meinen, der „große Plan“ sei weder ein Schlüsseldokument noch eine neue Entdeckung – vielmehr werde hier ein „alter Hut“ als neue Sensation verkauft. Tatsächlich wussten die Zeithistoriker auf Grund der Forschungen von Michael Geyer (Chicago) auch schon vorher, welche Rüstungspläne die Reichswehrführung in der Weimarer Republik schmiedete. Die von Carl Dirks aufgefundene Akte aber war bislang nicht bekannt.

Im historischen Rückblick gewinnt das politische Denken, das dem „großen Plan“ zu Grunde lag, eine entscheidende Bedeutung. Weder die Niederlage von 1918 noch die Revolution, noch die durch Versailles erzwungene Teilabrüstung hatten den Großmachtwahn und den Kriegsglauben der nationalistischen deutschen Eliten brechen können. Er setzte sich selbst bei jenen fort, die sich mit den neuen innenpolitischen Verhältnissen einigermaßen zu arrangieren vermochten – etwa bei dem vergleichsweise liberalen General Groener. Angesichts der Nie-wieder-Krieg-Bewegung drängte es ihn bereits im Herbst 1919, den sozialdemokratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert schriftlich zu warnen: „Wir dürfen niemals der Selbsttäuschung pazifistischer Ideologen unterliegen.“ Ebert solle dafür sorgen, dass das deutsche Volk in den nun folgenden Friedensjahren in Stand gesetzt werde, den Kampf „mit den Völkern der Erde“ wieder aufzunehmen „in dem Maße und mit den Mitteln, die ihm vernünftigerweise nach dem Zustand seiner Kraft zu Gebote stehen“.

Nicht anders Seeckt, der seit 1923 den „großen Plan“ erarbeiten ließ. Er sagte einmal: „Wir müssen Macht bekommen, und sobald wir diese Macht haben, holen wir uns selbstverständlich alles wieder, was wir verloren haben.“ Ganz ohne Polemik ist festzustellen, dass es von da aus zu Hitlers sozialdarwinistischer Kriegsideologie nur ein kleiner Schritt war. Auch Hitler glaubte, Politik sei „in Wahrheit die Durchführung des Lebenskampfes eines Volkes“.

Dem gegenüber kann man selbst in kritischen militärgeschichtlichen Darstellungen noch heute lesen, der Reichswehr der Republik sei es um die Organisation einer effektiven Landesverteidigung gegangen. An dieser Deutung wird man nun endgültig nicht mehr festhalten können. Die Zielrichtung war eine ganz andere. Es ging den Reichswehr-Planern um die Perspektive eines großen Angriffsheeres, mit dem ein neuerlicher Griff nach der Weltmacht gewagt werden konnte. Sie war die treibende Kraft für die Ingangsetzung einer Militarisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, welche die Voraussetzungen für den Zukunftskrieg schaffen sollte. Jetzt versteht man auch besser als bislang schon, weshalb Hitler sich nach seiner Ernennung zum Reichskanzler um die Durchführung der personellen und materiellen Aufrüstung nicht zu kümmern brauchte. Es reichte völlig aus, dass er den Generälen wenige Tage nach seinem Amtsantritt signalisierte, ab sofort gelte der „Grundsatz der Rüstungsfreiheit“. Nun konnten die professionellen Militärplaner ihre eigenen, längst in den Tresoren liegenden Rüstungsprogramme umsetzen. Das harmonierte prächtig. Die Interessenparallelität ist offensichtlich.

In mehreren Kapiteln verfolgen Carl Dirks und Karl-Heinz Janssen die weiteren Schritte der Rüstungpolitik der Reichswehr, die seit 1935 Wehrmacht genannt wurde. Besonderes Augenmerk richten sie auf die bedenkenlose Inanspruchnahme des deutschen Volkseinkommens für die Rüstung. Der „Krieg der Finanzen“ bewirkte hinter dem Rücken der Öffentlichkeit eine regelrechte Plünderung der privaten Ersparnisse und Altersversicherungen der „kleinen Leute“. In dem Kapitel über den Plan „Otto“ erfahren wir Neues über eigenständige Ostkriegsplanungen des Generalstabschefs des Heeres, Franz Halder, bereits wenige Wochen nach dem Sieg über Frankreich.

Damit wird die provozierende These des Buches verständlich, Hitler sei das „Werkzeug der Wehrmacht“ gewesen. Dirks und Janssen belegen nicht nur die Kontinuität des Kriegsdenkens und der Rüstungsplanungen vor und nach 1933, sondern sie sehen die Wehrmacht auch als durchaus selbstständigen Akteur innerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftsystems. Die Wehrmacht war die „zweite Säule“ des NS-Staates. Zusammen mit der NSDAP betrieb sie die Militarisierung der Gesellschaft. Sie gab Hitler das Angriffsinstrument in die Hand. Dirks und Janssen schlussfolgern, angesichts dieser langfristigen Entwicklungen „musste man auch ohne Hitler mit einem Krieg in Europa rechnen, der freilich ein anderes Gesicht gehabt hätte“.

Carl Dirks, Karl-Heinz Janssen: „Der Krieg der Generäle. Hitler als Werkzeug der Wehrmacht“. Ullstein, Propyläen, Berlin 1999, 304 Seiten.

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