: „Potential für eine Balkanisierung“
■ In Indonesiens Provinz Aceh wird der Ruf nach Unabhängigkeit lauter. Der Menschenrechtler Otto Syamsuddin Ishak erklärt die Hintergründe
taz: Warum wurden die ersten freien indonesischen Wahlen in Aceh boykottiert?
Otto Syamsuddin Ishak: Nach Suhartos Rücktritt im Mai 1998 gab es große Hoffnungen in Aceh. Armeechef Wiranto hob den militärischen Sonderstatus auf und versprach einen Abzug provinzfremder Soldaten. Die Hoffnungen auf eine Verbesserung der Menschenrechtslage haben sich aber nicht erfüllt. Der Gipfel war der Besuch von Präsident Habibie im März, als Sicherheitskräfte Studenten verprügelten, die ein Referendum über Integration oder Unabhängigkeit forderten. Die Desillusionierung führte zum Ruf nach Wahlboykott. Acehs zwölf Parlamentssitze könnten auch nicht die 38 des Militärs aufwiegen.
Wer unterstützt die Forderung nach Unabhängigkeit?
Sprechen wir in Aceh von Freiheit, muss unterschieden werden zwischen der bewaffneten Unabhängigkeitsbewegung „Freies Aceh“, die einen von Indonesien unabhängigen Staat fordert, und der zivilgesellschaftlichen Bewegung, die frei von Unterdrückung und von Menschenrechtsverletzungen leben will. Nach Regierungsangaben zählt die bewaffnete Bewegung 200 Leute. Ein Referendum wurde zuerst von Studenten gefordert und dann von regierungsunabhängigen Organisationen vorangetrieben. Laut Umfragen stehen 80 Prozent der Bewohner Acehs dahinter.
Was halten Sie von Präsident Habibies Autonomie-Angebot?
Aceh wurde schon früher ein Sonderstatus versprochen, ohne dass dies Versprechen gehalten wurde. Deshalb herrscht jetzt größte Skepsis gegenüber weitreichenderen Versprechen, was auch die Erfahrungen anderer Regionen Indonesiens bestätigen.
Welche Rolle spielen wirtschaftliche Gründe beim Wunsch nach Unabhängigkeit?
Während des militärischen Sonderstatus in Aceh von 1989 bis 1998 war die ökonomische Ausbeutung das Hauptargument für die Forderung nach Unabhängigkeit. Seitdem steht die Menschenrechtslage im Vordergrund. Ein Referendum ist die Methode, die am ehesten Menschenrechte, Demokratie und Gewaltlosigkeit vereinen kann. Außerdem propagieren wir eine Wahrheitskommission zur Aufarbeitung der Verbrechen der Vergangenheit nach südafrikanischem Vorbild. Für diesen Vorschlag werben regierungsunabhängige Organisationen.
Wer steht solchen Forderungen entgegen?
Die Regierung hat sich zur Wahrheitskommission noch nicht geäußert. Habibie ist nicht prinzipiell gegen ein Referendum, besteht aber auf dem parlamentarischen Weg. Das Militär will eine Aufarbeitung der Vergangenheit auf jeden Fall verhindern. Der Polizeichef bezeichnete die Forderung nach einem Referendum als „subversiv“, laut Militärchef grenze es an einen „Putschversuch“. Bei einer Wahrheitskommission müssten alle Karten auf den Tisch – auch die der bewaffneten Bewegung „Freies Aceh“. Ich bezweifel, dass sie dazu bereit ist.
Wie wirkt sich das Referendum in Ost-Timor auf Aceh aus?
Wir versuchen aus Ost-Timor zu lernen, um ähnliche Konflikte mit proindonesischen Milizen zu verhindern. Das Militär befürchtet in Ost-Timor einen Präzedenzfall für andere Regionen, was es auf jeden Fall verhindern will.
Ist eine Balkanisierung Indonesiens zu befürchten?
Indonesien hat ein großes Potential für eine Balkanisierung. Je störrischer das Militär versucht, den Status quo aufrechtzuerhalten, desto wahrscheinlicher ist eine Balkanisierung.
Was erwarten Sie von einer möglichen Präsidentin Megawati Sukarnoputri?
In Aceh machen wir uns Sorgen über eine künftige Präsidentin Megawati. Sie steht für den indonesischen Einheitsstaat, schweigt zu den Menschenrechten, und hinter ihr stehen Militärs mit einer blutigen Vergangenheit in Aceh.
Interview: Sven Hansen
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