: Jetzt kommt's krüppeldick
Deutschland feiert am 28. August den 250. Geburtstag von Johann Wolfgang Goethe. Mit echten Überraschungen ist im Jubiläumsjahr wohl nicht mehr zu rechnen: Kein deutscher Denker und Dichter ist besser erforscht als der Großklassiker aus Weimar. Doch halt! Ein Zweig der Goetheforschung ist nach fulminantem Auftakt nie weiter verfolgt worden: Goethe als Untersuchungsgegenstand der so genannten Krüppelpsychologie. Begründet wurde dieser Forschungsbereich von dem völlig in Vergessenheit geratenen Goetheforschr Hans Würtz. Der enthüllte in den dreißiger Jahren nicht nur die „Wesenssprödheit“ des Dichters, sondern vor allem dessen inniges Verhältnis zu körperlich auffälligen Zeitgenossen. Eine Wiederentdeckung von Oliver Maria Schmitt und Jürgen Wissarionowitsch Jonas Mir will das kranke Zeug nicht munden, Autoren sollen erst gesunden. (Goethe, Sprüche)
Alle 35 Sekunden verdoppeln sich unsere Kenntnisse über Johann Wolfgang von Goethe. Denn viele vorbildliche Menschen haben dazu beigetragen, den Weimarer Ganzgroßklassiker, das „Megatherium der Menschheit“ (Egon Friedell), zum besterforschten Mitglied derselben werden zu lassen. Übereinander gestapelt reichen die Goetheforschungsresultate hoch bis zum Ozonloch, aber auch nach einem Vierteljahrtausend Goethe, nach vierzigtausend Doktorarbeiten, nach vier Millionen Artikeln, Büchern, Aufsätzen über Johannwolfgangleben und Goethewerk ist immer noch einiges im Dunkeln und vieles völlig unbekant.
Zwar wissen wir heute um die Rhesusfaktorinkompatibilität in Goethes Familie, um die Dioptrienstärke seiner Leselupen und kennen seine Haltung zum Impfzwang, wir sind unterrichtet über seine Ansichten zum Postwesen und über sein Dasein als Inanspruchnehmer von Handwerkerdienstleistungen – was aber wissen wir über Goethe als Mitbegründer der sensationellen Krüppelpsychologie? Nix, ja gar nix. Denn die Welt hat einen ihrer größten Söhne schon wieder ganz vergessen: den Ausnahmegelehrten Hans Würtz, der die ausgelatschten Pfade der Goethe-Forschung verlassen hat, um der Welt etwas zu schenken, was so neu und revolutionär war, dass sie bis heute absolut nichts damit anfangen kann.
Würz nämlich ist eines schönen Tages, es muss kurz nach dem ersten Weltkrieg gewesen sein, etwas aufgefallen, was allen anderen Goethefexen bislang entgangen war: „Im eigenen Schicksalskreise wird gehemmtes Körpertum ihm zum Anreger stoischer Lebenshaltung. An allen Wendepunkten von Goethes Entwicklung stehen befreundete Krüppel. Gebrechliche Denker, Dichter, Maler und Musiker sind ihm Lichtbringer.“ Der dies sagt, weiß, wovon er spricht. Es ist kein Geringerer als der Verwachstumsforscher Hans Würtz, im Nebenberuf Erziehungs- und Verwaltungsdirektor am Oskar-Helene-Heim in Berlin.
1932 erscheint – es war wohl an der Zeit – Würtzens faszinierende Schrift „Goethes Wesen und Umwelt im Spiegel der Krüppelpsychologie“, welche stolze 32 Seiten dick ist und das „Erste Ergänzungsheft“ zu seinem gigantischen Hauptwerk „Zerbrecht die Krücken!“ darstellt. In diesem völlig beispiellosen Buch versuchte Würtz nicht weniger zu erfassen als die „Krüppelprobleme der Menschheit und Schicksalsstiefkinder aller Zeiten und Völker in Wort und Bild“ – so verheißt es zumindest der Untertitel. Dies muss ihm aber auch gelungen sein, denn das Werk macht zumindest in einschlägigen Fachkreisen sogleich gewaltigen Wirbel.
Selbst der abgebrühte Rezensent der Allgemeinen Deutschen Lehrerzeitung zeigt sich überrascht und lässt sich zu einer gewagten Prophezeiung hinreißen: „Es ist ein Buch, das niemand, der es gelesen hat, ohne größte Überraschung aus der Hand legen wird.“ Was will Würtz? Würz will (und kann auch!) Goethes Genie vor allem aus seiner Körperbildung bzw. -unbildung heraus erklären. Glaubt man seinen Darlegungen – und wir haben allen Grund, das zu tun! –, dann war Johann Wildwuchs Goethe nicht erst durch allmähliches Erleiden im Lauf der Jahre, sondern schon von Anfang an im Würtzschen Sinne ein Krüppel und krückte sich durchs Leben; und neugierig, wie Krüppelforscher nun mal sind, fragt Würtz: „Wieweit aber wirkte sich in Goethe, der scheintot auf die Welt kam, sein 'körperlicher Mangel‘ seelisch aus?“
Das ist eine nur zu berechtigte Frage. Zuvor gilt es jedoch im ersten Buchkapitel („Das Geheimnis der Wesensspröde Goethes“) dem Geheimnis der Wesensspröde Goethes auf den Grund zu gehen. Sie war ja auffällig, denn an ihr, so weiß Würtz, „nahmen Anstoß Börne, Menzel, Arndt, Mendelssohn u. a.“. Ihnen allen war Goethe wesensspröd und rätselhaft, sie erlebten „neben dieser Härte, Zugeknöpftheit, Steifheit seine väterliche Güte, seine Liebeszartheit, seine hausväterliche Geduld“ – Dinge, die nicht zuletzt dem warmen Krüppelfreund auf den vorbildlich gepflegten Fußnägeln brennen.
Triumph für Würtz, der nun volle Kanne auftrumpfen und endlich seine erdrückende Beweislast an den Mann bringen kann: „Der wahre Sachverhalt verdeckte sich Freunden und Gegnern Goethes, weil ihnen noch nicht das Forschungsinstrument der Krüppelpsychologie bekannt sein konnte.“ Denn das hatte ja Erziehungsdirektor Würtz gerade erst in die Welt gebracht. Und sogleich erwächst in ihm ein furchtbarer Verdacht: „Könnte nicht vielleicht Goethes bis heute rätselhaft gebliebene Wesensspröde ihre Wurzel im Andeutungskrüppeltum des zu kurzbeinigen und darum übermäßig langrumpfig erscheinenden Dichters des Faust selber haben?“
Und überhaupt: Hatten denn nicht „begabte Krüppelseelen mannigfache Unruhen in seinen Lebenskreis getragen?“ Aber genau! Also vergleicht Würtz den kurzbeinigen und langrumpfigen Ex-Scheintoten nicht ohne Gewinn mit anderen aus der Art Geschlagenen, zum Beispiel mit seinem Freund Herzog Karl August von Sachsen-Weimar, der bekanntlich „langbeinig und kurzrumpfig“ war: „Man sieht den klugen Lebensderbling, den gedrungenen Langbeinkrüppel, den sogenannten“ – aber gemach, Herr Würtz. Bitte nicht alles auf einmal!
Wir wollen zunächst mal wissen: Hatte Goethe denn überhaupt mit anderen Krüppeln zu tun? Antwort: Aber ja! Goethe hatte gar keine andere Wahl: „Wohl noch nie hat sich ein Dichter mit solcher Blickweite bemüht, aus seinem Blickfelde die Schönheit des Charakteristischen zu bannen, dennoch konnte er Gebrechliche aus seiner Umwelt nicht ausschalten“ – warum eigentlich nicht? Er hatte doch gute Beziehungen zum Geheimdienst! Aber die Katastrophe war nicht abzuwenden: „Er mußte sich von großen Gebrechlichen entscheidend befruchten lassen.“
Zum Beweis des Befruchtungsirrsinns lässt Dr. Würtz nun eine Krüppelparade auflaufen, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat: Beispielsweise war Goethe 1778 auch mal in Berlin – „obwohl er sich in dem klaren, prosaischen Berlin als mitteldeutscher Berg- und Walderleber nicht heimisch fühlen konnte“. Potzblitz! Warum aber verließ Goethe Wald und Berg? Weil er, man mag es kaum glauben, den „bedeutenden Buckelkrüppel Moses Mendelssohn sprechen wollte“. Doch nicht nur den. Ein andermal traf der Walderleber den bedeutenden französischen Politiker Charles Maurice Talleyrand; „das Gebrechen Talleyrands, den Klumpfuß, erwähnt Goethe nicht“, wütet Würtz, „aber er wittert das Mephistophelische in dem gewiegtesten Diplomaten Europas“. Na, wenigstens etwas.
Gelegentlich traf Goethe auch Schopenhauer, und siehe da: „Der Weltschmerzdenker und Nirvanaträumer Schopenhauer war wie Goethe mit einem Mißverhältnis zwischen Rumpf und Beinen belastet.“ Darüber hinaus wird Schopenhauers Schwester Adele, die Goethe oft zum Kaffeeklatsch begleitete, als „abschreckendhäßlicher Mensch“ beschrieben. Na bitte und na also! Und nun geht's Schlag auf Krückenschlag: Lauert hier „der Fußkrüppel Lord Byron“, wartet da schon „der Fingerkrüppel Karl-Friedrich Zelter“; humpelt dort Goethes Jugendfreund, „der Häßlichkeitskrüppel Johann Heinrich Merck“, hinkt hier auch schon „der hüftlahme Philosoph Schleiermacher“ herbei; kaum ist Goethe dem Maler Roesel, „einem Zwergwuchskrüppel“, begegnet, rennt er auch schon in den Rollstuhl des „Ressentimentkrüppels Ludwig Börne“; dazwischen liest er die Werke des „lahmen Walter Scott“ oder lässt sich inspirieren „von dem französischen Häßlichkeitskrüppel, dem seelisch feinen, aber körperlich plumpen Stendhal“. Die ganze Aktion Sorgenkind auf einmal!
Aber das reicht Goethe nicht: „Er läßt sich auch belehren von dem Wuchskrüppel Erasmus von Rotterdam“, er bewundert, ohne sich zu schämen, „die Kompositionen des rundrückigen Opernkomponisten Ritter von Gluck“, und der „Andeutungskrüppel Immanuel Kant wird für Goethe unwillkürlich zum Verdeutlichungsspiegel seiner Lebenstaktik“.
Würtz schäumt vor Wut, denn nun hat er nicht nur herausgefunden, dass Goethes Umfeld unter anderem aus taktischen Verdeutlichungsspiegeln besteht, sondern manchmal sogar aus Wünschelruten: „Problematische Geister werden Goethe immer wieder zu Wünschelruten. An der Spitze dieser rätselhaften Anreger steht wieder ein Krüppel, sein scharfsinniger Antipode in der Farbenlehre – der satirische Buckelkrüppel Lichtenberg.“
Und kaum ist der erkannt, schaltet Würtz schon einen Antipoden weiter: „Das Gegenspiel zu dem verbitterten, oft bis zum Wahnsinn verdüsterten Lichtenberg ist der ewig heitere Rachitiker Wolfgang Amadeus Mozart.“ Nicht zu fassen! Rundherum ein Heer von Krüppeln, und mittendrin sitzt Mozart und lacht sich scheckig. Dieser Idiot! Der sollte sich mal ein Beispiel an Beethoven nehmen, einem „kleinen, plumpen, im Gesicht durch Pockennarben entstellten Musiker“. Ahnt Mozart überhaupt, was hier grade auf dem Wünschelrutensektor los ist? Da zuckt schon wieder eine, und sie ähnelt auf frappante Weise dem „frivolen Spötter“ Voltaire, dem Würtz leider nur ein vergleichsweise harmloses Handicap bescheinigen kann: „In dem kleinen, grundhäßlichen Franzosen ergreift Goethe ebenfalls eine Wünschelrute.“
Heimleiter Würtz indes greift schon wieder nicht zur HB, dazu bleibt weder Zeit noch Muße, denn nun holt er aus zu seinem letzten Beweishammer, der sagenumwobenen Freundschaft Goethes mit seinem Gönner und Geldsack, dem langbeinigen Herzog Karl August. Wir erinnern uns, dass Karl August – im Gegensatz zu dem „Lebenszärtling Herder“ – eher ein „Lebensderbling“ war, sonst können wir das nun nachfolgende Krüppelfachchinesisch nicht verstehen: „Man sieht den klugen Lebensderbling, den gedrungenen Langbeinkrüppel, den sogenannten 'Sitzzwerg‘, den Freund des Kurzbeinherblings Goethe – des sogenannten ‘Sitzriesen‘ – ingrimmig lächeln, wenn er an Knebel schreibt: 'Für den Streusand danke ich.‘ “
So geht es eben zu zwischen Herblingen und Derblingen, und mit Fug und Recht sprechen wir hier von der – bitte festhalten! – : „Wechselentkrüppelungsfreundschaft dieser körperlich Disproportionierten und geistig verhältnisgerechten großen Gestalten“. Die, so dürfen wir wohl ergänzen, sich nur wie lächerlich kleine Zwergwuchskrüppel ausnehmen neben der größten Leuchte der modernen Krüppelpsychologie, Herrn Erziehungsdirektor Hansi Würtz. Ehre sei ihm im Oskar-Helene-Heim!
P. S.: Offensichtlich war sich Würtz des bevorstehenden Erfolges seiner Forschertätigkeit sehr sicher. Im Deckel seiner goetheschen Krüppeliana stellt er bereits weitere Würtz-Werke „in Aussicht“: „Glück im Krüppelnotland“, „Gebrechliche als Meister des Pinsels“, „Sieghafte Heerführer trotz Krüppeltum“ und natürlich seine ganz persönliche Mega-Freak-Show, „Schaukrüppel und Hofzwerge“. Ach, wer da mithumpeln könnte!
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