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Existenzialistische Drehungen

■ Und jede Menge Zitate: Thomas Findeiß' Roman „Die Heimat der Schneestürme“

„Welcher Film beginnt mit einer Exekution?“, fragt Ruben. „The Dirty Dozen“, antwortet Carl, „von Robert Altman“, und Ruben verbessert ihn, ganz lässig: Aldrich. Nicht Altman. Man kann sich vorstellen, dass die beiden Freunde sich in den letzten Wochen auf ihrer Reise durch die Türkei ziemlich auf die Nerven gegangen sind und eigentlich nur noch nach Hause wollen.

Doch dann ärgert Ruben sich in Istanbul auf dem Flughafen über einen Barkeeper und zerreißt vor dessen Augen einen türkischen Geldschein. Das ist „Zerstörung von Staatseigentum“, Ruben wird verhaftet. Keine Chance, ihn in der nächsten Zeit wieder aus dem Gefängnis zu bekommen, erklärt ein türkischer Beamter, und weil Carl in den letzten Wochen oft genug von Ruben Nachhilfestunden in Filmgeschichte bekommen hat, fällt ihm dazu nichts anderes ein als: „Das ist ja wie in „Midnight Express.“

Tatsächlich ist es erst mal wie in Alan Parkers Film über den amerikanischen Studenten, der wegen Drogenschmuggels in Istanbul verhaftet wird und dort ein paar unschöne Jahre im Gefängnis verbringt: „Die Heimat der Schneestürme“, der zweite Roman des Berliner Schriftstellers Thomas Findeiß, ist zunächst eine Art literarisches Remake. Ruben, ein frustrierter Enddreißiger, verschwindet im undurchschaubaren System des türkischen Strafvollzugs. Carl setzt alles daran, ihn aufzuspüren und freizubekommen, weiß allerdings nicht, dass sein Freund sich längst mit einer existenzialistischen Drehung in die neue Situation gefügt hat: „Das Leben im Gefängnis schien mir die logische Fortsetzung des Zustandes innerer Verlassenheit, in dem ich mich schon seit langem befunden hatte, ohne sonderlich darunter gelitten zu haben.“

Das klingt nun weniger nach Alan Parker als nach der Schlusspassage aus Albert Camus' „Der Fremde“, aber in diesem Roman klingt eben vieles wie ...: Hat man erst einmal damit angefangen, den Anklängen in der „Heimat der Schneestürme“ nachzugehen, ist man bald hoffnungslos verloren, denn Thomas Findeiß verwendet jede Menge Zitate aus dem Kino und aus der Weltliteratur.

Das macht natürlich Spaß, und wenn man dann merkt, wie die Zitate plötzlich unscharf werden und selbst die ganz allein ausgedachten Findeiß-Sätze und Findeiß-Bilder nicht mehr echt aussehen, man sich in dem Text also wie in einem Traum verliert, dann ist das ein wirklich guter Effekt.

Thomas Findeiß ist ein reichlich unzeitgemäßer Schriftsteller. Als er vor zwei Jahren sein Debüt, „Holy Days“, veröffentlichte, war er zum Beispiel schon 39 und glatt ein wenig alt für einen so genannten Nachwuchsschriftsteller. Auch mit dem ganzen Theater um die neue Berliner Literatur hat er nichts zu tun: In „Holy Days“ war diese Stadt nur eine Art austauschbarer Abenteuerspielplatz für lebensmüde Thirtysomethings, die dann lieber an die polnische Ostsee flohen und sich dort exzessiv mit sich selbst beschäftigten. Und in „Die Heimat der Schneestürme“ ist Berlin nur noch ein ganz müder Witz. Ruben wird von einem anderen Gefängnisinsassen einmal gefragt, wo er herkommt: „Deutscher?“ – „Ja“ – „Welche Stadt?“ – „Berlin.“ – „Ost oder West?“ – „West“, sagte Ruben, „den Unterschied gibt es jetzt nicht mehr.“

Wie schön: So einen Dialog durfte man sich schon 1992 nicht mehr erlauben, 1999 ist er geradezu unverschämt. Hätte man nicht das Gefühl, dass „Die Heimat der Schneestürme“ ursprünglich mal ein Drehbuch war und sich stellenweise eben genauso liest – mit diesem Roman könnte man unverschämt glücklich den Sommer zu Ende bringen. In Berlin.

Kolja Mensing ‚/B‘ Thomas Findeiß: „Die Heimat der Schneestürme“. Volk und Welt, Berlin 1999, 344 Seiten, 39,80 DM

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