■ Hinter der Ladenschlussdebatte steht die Frage, wer Gewinner und wer Verlierer der postindustriellen Gesellschaft sein wird
: Phantomschmerzen der Deregulation

In Wirklichkeit wird gar nichts mehr verhandelt, alles ist beschlossene Sache

Nach den Regeln unserer politischen Mythologie ist das „Sommerloch“ jene Medienzeit, in der das Eigentliche, Handwerk und Schauspiel der Regierung, nicht geschieht. Dafür darf sich der unwichtige politische Mensch in den Vordergrund spielen, und das Unwichtige wird zur Schlagzeile.

Das kann man natürlich auch genau andersherum sehen: nämlich als die Zeit, in der gesellschaftliche Probleme anders verhandelt werden. In einer Weise, wo man nicht mehr so genau zwischen Sender und Empfänger unterscheiden kann. Eine Experimentalphase. Zugegeben, weniger der dramatischen Schule zugehörig als der Kunst der Farce.

Mit einer merkwürdigen Mischung aus Trägheit und Aufgekratztheit schwappt da etwas aus den Zeitungsverkaufsapparaten und Fernsehsendern heraus, zum Beispiel: das Ladenschlussgesetz. Geiles Wort das, obszön und trist. Das Sommerloch erhebt so ein Wort in den Rang einer Entscheidungsfantasie. Bist du etwa dafür, dass sich eine arme, unterbezahlte Verkäuferin auch am heiligen Sonntag die Beine in den Bauch stehen muss, nur um dir zu sagen, dass du selber schauen sollst, ob noch eine Zappa-CD im Angebot ist und woher die Pfirsiche kommen? Dass die allein erziehende berufstätige Mutter keine Windeln mehr bekommt, weil im Drogeriemarkt die einbruchssicheren Rolläden runter sind? Wir spalten uns in den ausgebeuteten Dienstleistenden und den ausgebeuteten Konsumenten. Wer von beiden hat Recht? Dr. Jekauf oder Ms. Heidenjob? Ein Krieg der Angeschissenen ist entbrannt. Die Phantomschmerzen der Deregulation lösen einen schizophrenen Schub aus.

Eine Farce ist das, sicher. So überflüssig wie eine Rechtschreibreform oder eine Sonnenfinsternis. Weil in Wirklichkeit gar nichts verhandelt wird, sondern alles schon mehr oder weniger beschlossene Sache ist. Aber auch eine höchst symbolische Installation, die sehr tief in unsere Gefühlslagen reicht, wie zum Beispiel an den höchst aufgeregten Anrufen während der einschlägigen Radiosendungen zu belegen ist. Die Debatte um den Ladenschluss ist so aufgeheizt, weil wir noch keine rechte Vorstellung davon haben, wie sich die Umwandlung einer Produktions- und Verwaltungsgesellschaft in eine Dienstleistungsgesellschaft vollziehen wird. Wer zu den Verlierern und wer zu den Gewinnern gehören wird.

Die Würde des Menschen im Kapitalismus besteht darin, dass er sich halb tot arbeiten darf, um sodann als Kunde aufzuerstehen. Die Zärtlichkeit im Kapitalismus würde darin bestehen, dass sich ein Mensch, der dem anderen etwas verkauft, sich dabei freuen könnte, dass er dem anderen ein ganz kleines Glück verschafft. Die Freiheit im Kapitalismus ist die Freiheit des Konsums.

Ich will gar nicht davon reden, dass die überarbeitete Verkäuferin, die im Übrigen auch dafür bezahlt wird, mich dafür anzupampen, dass ich meine Rechnung heute nicht mit genau abgezähltem Kleingeld bezahle – das braucht seine Zeit – und morgen leider nur einen Fünfzigmarkschein dabei habe, obwohl ich nichts anderes als meinen Frühstücksjogurt und die FR erwerben möchte. Nicht von jenem Besitzer eines Fotogeschäfts, der im Radio erklärt, er könne doch am Samstag seinen Laden nicht aufmachen, nur weil dann „ein paar Rentner kommen“, die ihre alte Kamera doch auch zur gewöhnlichen Einkaufszeit zum Reparieren bringen könnten. Dass in dieser Debatte an die Oberfläche kommt, dass das Kaufen und Verkaufen bei uns immer noch etwas Obszönes, etwas Gewalttätiges, etwas von Verachtung hat.

Solidarität, ach, wäre das ein schönes Gefühl. Von den ausgemusterten Arbeitslosen bis zu den heimatlosen Intellektuellen. Wenn das sich fände! Nicht hier. Hier hasst sich das eine im anderen.

Wir kaufen in der Regel von Menschen, die nur eines mehr hassen als den eigenen Job, nämlich uns; Menschen, die hoffen, durch den Erwerb einer Ware ein ganz klein wenig von dem Glück zu erhalten, das das System verspricht. Der Kapitalismus wird uns im Kleinen wie im Großen von Menschen verkauft, die selber nicht an ihn glauben, die hier wie dort die Peanuts verachten, für die wir vielleicht am Abend noch eine Ladentür zu öffnen bereit sind. Deshalb steht schon jetzt fest, dass die Aufhebung des Ladenschlusses nicht den kleinen Geschäften dienen, sondern den Machtkampf zwischen den Konzernen beflügeln wird. Denn leider ist der Gedanke, hier ein wenig menschenfreundlich einzugreifen, Tante Emma zu erlauben, was dem Konzern untersagt wird, eine Illusion. Eine Option, die nicht besteht.

Wir haben die Erfahrung einer Demokratie ohne Demokraten, kein Wunder, dass wir nun mit einer Dienstleistungsgesellschaft bestraft werden, in der niemand irgendjemandem einen Dienst erweisen möchte. Ein Herrenvolk eignet sich nun mal nicht zu Dienstleistern. Und schon good old Nietzsche hat erkannt, dass sich soziale Verachtung oft als Mitleid tarnt. Stell dir vor, jemand findet sein Glück darin, dir deine Wünsche zu erfüllen. Wünsche, die du vielleicht gar nicht kennst. Ja, wenn es sich um die Mächtigen und Wichtigen handelt. Für die war es noch nie ein Problem, zu bekommen, was sie sich wünschen, zu jeder Zeit. Und dann gibt es das kleine Prollglück, am Kiosk, an der Nachttanke. Nur die Mitte möchte den Konsum geregelt haben. Als müsste sie sich die eigenen Impulse des „hemmungslosen Konsums“ begrenzen, als müsste sie damit eine Portion schlechtes Gewissen bezwingen.

Der Kapitalismus ist für die deutsche Gesellschaft immer nur ein Metasystem geblieben, die unteren Stände haben sich ihm unterworfen, ohne ihn zu leben. In der Seele des Deutschen bleibt er ein Phantasma; er hat nie verstanden, dass Handel und Dienstleistung auch ein demokratischer, ein zärtlicher, ein menschlicher Vorgang sein kann. Deshalb verachtet der deutsche Mensch das System, in dem er lebt, und sucht sich seine Feinde. Für immer und immer.

Die Debatte um das Ladenschlussgesetz entwickelt sich zur Beziehungsfalle. Die Befürworter erscheinen einem genauso unsympathisch wie die Gegner. Wenn Ex-Wirtschaftsminister Rexrodt (FDP) erklärt: „Das Ladenschlussgesetz muss weg – Punkt!“, kann einem das schon einen kalten Schauer über den Rücken jagen. Über Tage hinweg erklärt andererseits eine bayerische Staatssekretärin in allen Medien, dass sie nicht bereit sei, den Sonntag „dem Kommerz“ zu opfern. Besser könnte keine Kabarettistin den Kurzschluss zwischen neoliberalem Fleische und fundamentalistischer Haut auf den Punkt bringen. Nein, sie wird nicht rot dabei. Niemand wird rot in dieser obskuren Debatte.

Wir spalten uns in ausgebeutete Dienstleister und ausgebeutete Konsumenten

Auch nicht bei den Kirchen, die natürlich Angst haben müssen, ihre letzten Kunden an die „Konsumtempel“ zu verlieren. Diese Kirchen, die sich schon längst ihre Corporate Identity von Unternehmensberatungen verpassen lassen, sind so glaubwürdig wie belgische Coca-Cola. Diese Gewerkschaften, die niemanden mehr stören wollen, soweit man ihre eigenen Geschäfte nicht stört, diese Gutmenschen, die ihre Apfelbäumchen pflanzen, solange sie ihre Steuerbescheide fälschen und den Elternbeirat zuquatschen können – sie alle dürften meinen Wunsch nicht verstehen: Ich möchte um halb elf Uhr nachts einen Viertelliter Milch in einem Laden einkaufen, dessen Kassierer sich freut, dass ich gekommen bin.

Es ist natürlich alles Quatsch, was dahermoralisiert wird. Ich kann das Geld, das die Herrschaft der Besserverdienenden mir übrig lässt, sowieso nicht zweimal ausgeben. Nach dem, was einmal der Ladenschluss war, habe ich auch nicht mehr als vorher. Ich gehe zu Hertie zu diesen dunklen Stunden, wegen der Klimaanlage. Hey, Moment, da gibt's tatsächlich eine CD der Houserockers für 2,99. Das wird noch mit meinen Parkgebühren verrechnet. Macht zusammen 59 Pfennig für eine Stunde genialer Musik von einem, der sich leider mittlerweile zu Tode gesoffen hat. So komisch, wie die Verkäuferin guckt, würde man in New York nicht gucken.

Mein bescheidener Vorschlag für alle, die Arbeit am Sonntag, ein Lächeln für einen wie mich sogar, wenn er zur Unzeit Strauchtomaten oder einen Joseph-Conrad-Roman für sein leider auch nicht in der Fernsehlotterie gewonnenes Geld zu verlangen sich traut, für eine Zumutung halten, lautet: „Das Kapital“ von Karl Marx lesen. Von vorn bis hinten. Nein, nicht glauben. Nur einfach mal lesen. Hei, wie schnell hätten wir alle Ladenschlussgesetzempörungen ausgeräumt. Wetten, dass?

Georg Seeßlen