Das Sterben im Zeichen des Regenbogens

Vor zehn Jahren war das Neue Forum die erste Bürgerbewegung der DDR, der sich tausende anschlossen. Heute ist es klinisch tot, doch der Patient will nicht sterben  ■   Von Thomas Gerlach

„Wir haben die Revolution gemacht. Und wir haben sie im Januar 90 schon in den Papierkorb geworfen“, sagt Hartmut Rüffert vom Neuen Forum

Bürgerrechtler sind gnadenlos, auch gegen sich selbst: „Ich will jetzt das Ende!“ Hartmut Rüffert schaut in die Runde. Die vier am Tisch schweigen. Neu sind solche Sätze für den Landessprecherrat des Neuen Forum Sachsen nicht. Hartmut Rüffert ist Mitglied. Nein – er war es, bis jetzt.

Sterben kann lustvoll sein.

Vor zehn Jahren war es das Neue Forum, das mit half, die DDR ins Grab zu befördern. Am 11. September 1989 veröffentlichte es als erste landesweite Oppositionsgruppe den Gründungsaufruf unter dem Motto „Die Zeit ist reif“. Nun ist es selbst an der Reihe. Der Sensenmann steht vor die Tür. Drinnen wartet gefasst das letzte Aufgebot der sächsischen Bürgerrechtsbewegung. Vier Männer, eine Frau. Sandkuchen und Salzgebäck liegen auf dem Tisch, Pfirsiche duften aus der Schale, die Kaffeemaschine gluckst vom Fensterbrett herüber. Sieht so das Ende aus?

In der Außenwelt gilt das Neue Forum schon längst als ausgestorben. Für sie existiert es nur noch in Aufrufen, Zeitungsartikeln und Erinnerungen, aufgebahrt in den Archiven. Historiker haben die papierne Leiche präpariert, Politologiestudenten schreiben Magisterarbeiten über den Herbst 89, Doktoranden sezieren das Material und prüfen die Verwandtschaft zwischen DDR-Opposition und Bündnis 90/Die Grünen, für viele die offiziellen Erben der DDR-Bürgerrechtsbewegung. Doch 1990 hatte sich nur ein Teil des Neuen Forum mit den anderen Bürgerbewegungen zum Bündnis 90 zusammengeschlossen. Das ließ sich später von den Grünen schlucken, die sich nur mit diesem Frühstück im ersten gesamtdeutschen Bundestag halten konnten. Außer einer Hand voll Hinterbänklern blieb von den Bürgerrechtlern nur der sperrige Doppelname Bündnis 90/Die Grünen.

Die anderen versanken in der ostdeutschen Provinz. Im Kreistag von Borna im westsächsischen Braunkohlerevier, in Thüringen oder in Dresden haben sie ihre Nischen gefunden.

Das alte Messegelände am Rande der Leipziger Innenstadt dämmert der Abrissbirne entgegen. Unkraut wuchert in den Fugen der Plattenwege. Die Einlass-Schranken sind in der Senkrechten erstarrt, Wachmänner glotzen in Monitore, der sowjetische Pavillion reckt seine riesige kommunistische Goldnadel in den Himmel – an ihrem Ende steckt einsam ein roter Stern. Am Rande dräut das Völkerschlachtdenkmal. Hier wird Geschichte endgelagert, ein Friedhof ausgebrannter Ideen. Kaiserreich, Sowjetunion, DDR. Gleich neben dem Glashaus der Wachleute liegt die Landesgeschäftsstelle des Neuen Forum Sachsen, im Fenster krümmt sich ein Regenbogen, das Markenzeichen des Neuen Forum. Dahinter tagt der Landessprecherrat.

„Es war eine schöne Zeit, Schluss, aus.“ In Hartmut Rüfferts Augen flackert Nihilismus. „Wir sind doch zu sehr wendebehaftet!“ Gnadenlos reibt Hartmut Rüffert Salz in die Seelenwunde. Immer wieder, immer tiefer. „Auf Landesebene kommen wir doch seit sechs, sieben Jahren nicht mehr vor!“ Mit spitzer Nase, einen Bart um den Mund, schaut der Meuterer in die Runde. Die vier schweigen bockig, knabbern Salzgebäck. „Ich bin seit 1993 dabei. Das Neue Forum habe ich nur sterben sehen.“ Devi Kem, Studentin aus Zittau, reagiert auf das Salz. Hartmut Rüffert nickt zufrieden. Sie war damals erst 14 und bereits zu spät geboren, um die Bürgerbewegung im Zenit ihrer Macht zu erleben. Im Herbst 89 rannten die DDR-Bürger dem Neuen Forum die Türen ein. Alle wollten mit ihrer Unterschrift den Gründungsaufruf unterstützen. Keiner weiß, wie viele unterschrieben haben. „NEU-ES FO-RUM ZU-LAS-SEN!“ Der Ruf stieg aus tausenden unzufriedenen Kehlen Montag für Montag in den Leipziger Oktoberhimmel, damals vor zehn Jahren. Erst musste Honecker gehen, dann Krenz, dann Modrow, es kam – die CDU. Und das Siechtum des Neuen Forum begann. „Wir haben die Revolution gemacht. Und wir haben sie im Januar 90 schon in den Papierkorb geworfen!“ Unnachgiebig massiert Rüffert wieder eine Handvoll Salz in die Wunde. „Danach haben wir doch nur versucht, das Neue Forum am Leben zu halten. Sauerstoffmaske drauf! Jetzt ist der Sauerstoff alle.“ Zeit für den Sensenmann.

Carl Jesche ist Stoiker und im Nebenerwerb halbtags Landesgeschäftsführer des Neuen Forum in Sachsen. Mit Bestattermine protokolliert er das Unabwendbare: „Hartmut Rüffert legt das Amt im Landessprecherrat nieder.“ Die Regionalgruppe Borna vor den Toren Leipzigs hat aufgehört zu existieren. Deren drei Kreistagsabgeordnete sind bereits übergelaufen. Zwei zur SPD-Fraktion, einer in die Reihen der PDS. Ausgerechnet PDS! Das tut weh. Jetzt sind es noch zwei Regionalverbände in Sachsen: Dresden und Leipzig. „Da stellt sich die Frage, ob wir noch einen Landesverband brauchen.“ Carl Jesche greift nun auch ins Salzfass. Ohne Landesverband kein Landesgeschäftsführer.

„Wir müssen das jetzt durchziehen! Wir brauchen noch 500 Unterschriften. Bis Donnerstag.“ Am Tisch formiert sich der Widerstand. Er kommt aus Dresden, ist 48 Jahre alt und heißt Hans-Jürgen Hempel. Ende Juni wurde Hempel in Mellingen bei Weimar zu einem „Außensprecher“ des Bundesvorstandes vom Neuen Forum gewählt, ein Phantom, das vor allem im Thüringischen geistert. Außer Hans-Jürgen Hempel kämpfen die sechs anderen Vorstandsmitglieder irgendwo zwischen Gera und Eisenach. Dort kreisen die Geier. Die Statt-Partei, selbst schon unheilbar krank, streckt ihre Hand zur Hochzeit aus.

„Die 500 Unterschriften schaffen wir bis Donnerstag!“ Bei Hans-Jürgen Hempel wehren sich die Reflexe. Das Neue Forum darf nicht sterben. Es soll am 19. September in den nächsten Sächsischen Landtag. Dafür braucht es „Unterstützerunterschriften“. Doch heute wartet keine Schlange von Unzufriedenen vor der Tür.

Hempel hat geklotzt und in seinem Dresdner Wohnblock 100 Unterschriften gesammelt, 500 sind insgesamt zusammen. Die Leipziger hängen hinterher. Dem Landeswahlleiter müssen 1.000 beglaubigte Unterschriften vorgelegt werden. Bis Donnerstag, fünf Tage noch. Nur dann kann das Neue Forum Sachsen zu den Wahlen antreten. Ein elfseitiges Programm hat der Landesverband verabschiedet. In 20 Punkten fordert er unter anderem das Ende von Nato-Kampfeinsätzen, die Abschaffung der Geheimdienste, eine Kulturpflicht des Staates, ein Einwanderungsgesetz, die Abschaffung der Wehrpflicht. Auch mit dem Argument der „finanziellen Sachzwänge“ müsse Schluss sein, verbrämte Ideologie sei das, mehr nicht. Doch Sachzwänge haben längst auch das Neue Forum im Griff. Sieben Kandidaten, der harte Kern, stehen auf der Liste für die Landtagswahl. Fünf aus Leipzig, zwei aus Dresden. Wer soll die 500 Unterschriften sammeln? Hartmut Rüffert winkt ab, er ist raus. Eine Hand voll Aktiver kann nicht alles leisten. Zu den Kommunalwahlen ließen die Leipziger 1.200 Pappen in der Stadt verteilen, mehr als die Hälfte haben sie selbst aufgehängt. „Fantasie und Redlichkeit“ und „Zeit für Bürgerbewegung“ versprachen die Plakate darauf. 1,3 Prozent der Leipziger wählten das Neue Forum. Das reichte für eine Stadträtin. Im letzten Stadtparlament waren es noch zwei.

Mehr als ein Wahlkampf im Jahr ist für das Dutzend Bürgerbewegte kaum zu schaffen. Die Werbepappen stapeln sich im Büro bis unter die Decke. Wer soll sie neu bekleben? Wer sie aufstellen? Von der inhaltlichen Arbeit ganz zu schweigen. Die Letzten drückt nun auch das Gewissen. Totengräber haben einen schlechten Ruf. Und dann die Häme. Bei den letzten Oberbürgermeisterwahlen in Leipzig stemmte das Neue Forum eine eigene Kandidatin auf die Bühne. Bündnis 90/Die Grünen schickte Vorzeigebürgerrechtler Werner Schulz von der Bundestagsfraktion ins Rennen. Der begrüßte seine Rivalin vom Neuen Forum wie einen Zombie: „Ich wusste gar nicht, dass es euch noch gibt!“ Auf offener Bühne, vor Publikum. Unter seinen Parteifreunden im fernen Bonn gilt Werner Schulz als Leipziger Bürgerrechtler. „Den hat im Herbst 89 hier keiner gesehen.“ Carl Jesche weiß längst, dass solche Beobachtungen nach zehn Jahren kleinlich wirken – auch wenn sie stimmen.

Die Kaffeemaschine blubbert wieder, am Fenster verkümmern drei Pflanzen. Das Salzgebäck ist alle. Es klopft. Ein korpulenter Herr, üppiger Haaransatz, Schnauzer, blaues Hemd und Schlips, nimmt auf einem Rohrstuhl Platz. „Ein Werbefachmann“, eröffnet Jesche. Der Herr sympathisiere mit dem Neuen Forum und habe einige Ideen zum bevorstehenden Wahlkampf.

„Ihr werdet gebraucht!“ Der Werbemann schaut in die Runde, unablässig knetet er mit seinen fleischigen Fingern ein Schlüsseletui. Hier ist ein Gegenspieler am Werk! Intuitiv hat Hartmut Rüffert dem anderen das Revier überlassen, draußen vor dem Fenster geht der Abtrünnige auf und ab. Unterdessen versorgt der Werbefachmann die verwundeten Seelen mit einer klaren Botschaft: „Die Chancen sind optimal!“ Er trägt Salbe auf. „Der Bürger muss euch neu erfahren!“ Vorsichtig legt er den Verband an. „Leben im Zeichen des Regenbogens!“ Carl Jesche ist der Erste, der Worte findet: „Ich glaub ja keiner Werbung, aber sie ist für einen guten Zweck!“ – „Genau!“ Der Herr ist zufrieden. Die Medizin wirkt. Er behandelt weiter. „Die Leute müssen denken: Was, die gibt's noch? Was machen die? Das gefällt mir!“ Mit diesem Dreistufenplan solle die Marke Neues Forum die Wähler erreichen. Wenn es gelingt, könnte es in den Sächsischen Landtag einziehen.

Rainer Müller ist der Prototyp eines Bürgerschrecks: lange Haare, langer Bart, Nickelbrille und Jeansjacke. Vor zehn Jahren verteilte er Flugblätter, wurde von der Stasi beschattet, landete im Knast. Jetzt das Neue Forum als „Produkt“ anpreisen? Dieser Gedanke erreicht ihn aus einem anderen Universum: „Warum sollten die Leute deswegen gerade uns wählen?“ Der Hang zur Selbstzerstörung ist dem Werbemann fremd. Vorsichtig träufelt er neue Argumente. Bei der CDU-Übermacht in Dresden, der Rot-Grün-Verdrossenheit in Bonn und dem Wende-Jubiläumsbonus könne das Neue Forum tatsächlich verprellte Wähler erreichen. Doch es muss zuerst in die Öffentlichkeit zurück. Der Werbefachmann verspricht Hilfe – und Geld. „Aber erst mal müsst ihr das mit den Unterschriften klären.“ Der Herr verabschiedet sich. Die Wunde ist versorgt. Der Patient wird nicht sterben. Jedenfalls heute nicht.

Hartmut Rüffert ist wieder hereingekommen, schnappt seine Tasche. Unschlüssig steht er im Raum: „Ich war zehn Jahre dabei, nun mach ich eben als Hartmut Rüffert weiter Politik.“ Geschäftsführer Jesche überlegt, ob jetzt Dankesworte passend sind: „Du wirst uns fehlen!“ Daran zweifelt keiner hier. Rüffert geht. Doch es geht nur ein Teil von ihm, der andere lacht überlebensgroß und zuversichtlich von einem Werbeaufsteller in der Büroecke. „Hartmut Rüffert. Neues Forum – Liste 7!“ Das war vor fünf Jahren. Damals bekamen sie 0,7 Prozent.

Donnerstag: Beim Wahlleiter in Dresden liegen 1.076 Unterschriften. Das Neue Forum tritt in Sachsen zur Landtagswahl an. Auch die Thüringer haben es geschafft. Der dortige Landesverband hat ebenfalls die Hürde übersprungen. Sterben kann lustvoll sein.