: „Daß ich so ins Dunkle rief“
Modernität im klassizistischen Gewand: Die Werke von Rudolf Borchardt sind in einer neuen Gesamtausgabe erschienen. Ein Porträt des Schriftstellers ■ von Werner Jung
Auf den ungarischen Marxisten Georg Lukács geht die Rede vom „Sieg des Realismus“ zurück. Lukács – eine kurze Notiz Engels' über Honoré de Balzacs „Comédie humaine“ aufgreifend – führte damit den Realismus als systematische Kategorie in die Weltliteratur ein und bescheinigte ihm wahrhaft divinatorische Züge im Blick auf die historische Entwicklung. Wie eben im Falle Balzacs, der, obwohl Royalist bis in die tiefste innere Seele hinein, doch zugleich den Untergang seiner geliebten Adelswelt erkennen und in eins damit den Sieg ihres Totengräbers, der Bourgeoisie, inszenieren musste.
Vielleicht hat Lukács sich lediglich in der Terminologie geirrt. Denn auch Kafka oder Beckett, Benn oder Brecht – Antirealisten, Antimimetiker und Antiaristoteliker durch und durch – haben wie die von Lukács gefeierten Realisten gleich welcher Couleur das nächste historische „Kettenglied“ (Lenin) antizipiert und einen Blick in die innersten menschlichen Abgründe geworfen.
Ähnliches gilt auch für den Ultraklassizisten Rudolf Borchardt. Walter Benjamin hat ihn ebenso geschätzt wie der Literaturwissenschaftler Werner Kraft, dem wir eine vorzügliche Gesamtdarstellung Borchardts verdanken. Adorno hat die Borchardtsche Lyrik umfassend gewürdigt, nicht ohne ihrer Widersprüchlichkeit auszuweichen. Mit Hofmannsthal war er befreundet, mit George hat ihn eine Hassliebe verbunden. Der eigenen Zeit und Kultur, nicht zuletzt auch ihrem literarischen Ausdruck, ist er mit eisiger Geringschätzung und wahrem Hochmut im sicheren Bewusstsein eigener Überlegenheit entgegengetreten. Seine Begeisterung für Wil- helm II. mag man noch durchgehen lassen, der hypertrophe Nationalismus des Juden Borchardt, sein unbedingtes Deutschtum selbst in finstersten Zeiten, stimmt schon weitaus bedenklicher. Adorno schrieb: „Seine politische Haltung kann nicht beschönigt werden.“
Dennoch arbeitet gerade Adorno filigran die Widersprüche Borchardts heraus und entdeckt dessen spezifische Modernität im klassizistischen Gewand und konservativstem Geist: „heimatlos überwertet (sic!) er Heimat. All das spricht für etwas wie mißglückte Identifikation. Hilflos der Welt gegenüber, outriert er das Weltmännische und Weltkundige und bewundert es an anderen.“
Das scheint mir eine gelungene Formulierung für die Tragik der äußeren Existenz wie des Werks von Borchardt zu sein. Stationen der äußeren Biographie: geboren 1877 in einem schwerreichen jüdischen Elternhaus in Königsberg, das den Sprössling von Berlin, wo die Familie seit 1882 lebt, nach Westpreußen, dann ins Rheinland zur schulischen Ausbildung schickt; danach ab 1895 Studium der klassischen Philologie und Archäologie ohne Abschluss. Seit 1899 erste Schreibversuche und Übersetzungen, Bruch mit dem Vater 1901.
Unstetes Wanderleben, bis er sich 1906 dauernd in Italien, unweit Luccas, niederlässt; unterbrochen vom ersten Weltkrieg, zu dem er sich freiwillig meldet, und häufigen Vortragsreisen durch Deutschland lebt Borchardt gemeinsam mit seiner zweiten Frau Marie Luise Voigt, einer Nichte R. A. Schröders, in Italien. August 1944 Verhaftung und Deportation nach Innsbruck; in Trins am Brenner stirbt Borchardt am 10. 1. 1945 an einem Schlaganfall.
Vom literarischen Leben und Markt seiner Zeit abgewandt, ja offensiv gegen die Ismen auftretend und polemisierend, sucht Borchardt dennoch verstärkt seit 1905 die Öffentlichkeit. Mit den Freunden Hofmannsthal und Schröder gibt er das Jahrbuch „Hesperus“ (1909) heraus, erreicht damit aber nur einen kleinen Kreis Interessierter. Ein breiteres Publikum erfährt von Borchardt erst, nachdem seine Werke ab 1920 im Rowohlt Verlag erscheinen, schließlich sogar eine (auf zwölf Bände geplante) Gesamtausgabe.
Von zentraler Bedeutung ist vor allem Borchardts Übersetzungswerk (von Tacitus über Dante und Hartmann von Aue bis zu Swinburne), in dem er nicht zuletzt versucht, wie er es im Nachwort zum deutschen Dante ausdrückt, „auf das vorlutherische Deutsch“ zurückzugreifen: „Hier war ja wieder, war ja noch, die alte Knappheit und Evidenz (...).“ Auch die Lyrik, von den Jugendgedichten bis zu den Vermischten Gedichten von 1924, ist aus dem Geist eines Kampfes gegen den Sprach- und Formzerfall gespeist – ganz auf der Linie von Hofmannsthals Chandos-Brief, worin es an zentraler Stelle heißt, dass ihm die Wörter wie modrige Pilze im Munde zerfallen.
Dagegen und gegen die im Grunde noch tiefer sitzende Erkenntniskrise bietet Borchardt das Bollwerk seiner Lyrik voll „unsinnlicher Anschaulichkeit“ (Adorno) an, Ausdruck ebenso einer Erfahrung der Einsamkeit des Subjekts wie zugleich der Fremdheit des Wirklichen. „Atmete die Nacht so laut, / Daß ich schlief und doch nicht schlief / Schlafend so hinaus begehrte, / Daß ich so ins Dunkle rief.“ In historischen und philologischen Studien, in Essays und einer Vielzahl von Vorträgen und Reden hat der poeta doctus Borchardt, ein Künstler aus dem Geist antiquierter Buchgelehrsamkeit, die Kultur der griechischen Antike und des europäischen Mittelalters seinen Zeitgenossen zu vermitteln gesucht, möchte er auch, überzeugt von der antiken Vorstellung des Vates, des Sehers und Propheten, auf sein intellektuelles Publikum pädagogisch einwirken.
Borchardts erzählerisches Oeuvre nimmt einen vergleichsweise geringen Umfang ein. Bemerkenswert ist sein autobiografisches Fragment „Rudolf Borchardts Leben von ihm selbst erzählt“ (1926/27), in dem er über seine ersten Kinderjahre bis zum Schulwechsel berichtet und worin ihm unter der Hand ein genaues Porträt der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts entsteht. Assoziationen an die Welt des späten Fontane im „Stechlin“, an Thomas Manns angekränkelte Kaufmannssippe in den „Buddenbrooks“, aber selbst noch an Walter Benjamins Kindheitserinnerungen stellen sich ein, wenn etwa Benjamin beschreibt, daß das Kind noch ganz im 19. Jahrhundert wie in einer Schale haust, ebenso wie Borchardt, der völlig zurückgezogen mit seinen geliebten Büchern in den alten Dekorationen und der Plüschbehaglichkeit des bürgerlichen Salons hockt, als Kind nie ein Mode- oder gar Schimpfwort vernommen haben will und den „Pöbel“ nur mit „kaltem Abscheu“ betrachtet.
Darüber hinaus kann man in diesem Text auch noch ein verkapptes Psychogramm entdecken, wenn Borchardt seine Beziehung zum Vater, dessen Leistungen gewürdigt wie auch als bourgeoises Finanzgebaren wieder diskreditiert werden, zum Ausdruck bringt, um dann sein eigenes Leistungsstreben, ja seine manische Besessenheit von der Leistungsideologie, offensiv gegen die bürgerliche Ökonomie zu kehren.
Auf der Linie Adornos und seiner These vom Verlust der Heimat kann man Borchardts Novelle „Der unwürdige Liebhaber“ (1929) interpretieren, die Dieter Wellershoff einmal als beeindrukkendste Prosaarbeit Borchardts gewürdigt hat. In ihr geht es anhand durchaus exemplarisch verstandener Figuren um eine konservative Zeitkritik, deren Größe – nach Wellershoff und im Sinne der Lukácsschen Argumentation über den Realismus – darin besteht, dass bei aller unverhohlenen Sympathie des Autors mit seiner adligen Welt deren Auflösung drohend über den Geschehnissen hängt.
Die Frau eines Adligen, scheinbar glücklich verheiratet, erliegt in dem kurzen Moment einer nur angedeuteten Verführung durch den Ehegatten in spe ihrer Schwägerin, einen deklassierten Parvenu, ihrem eigenen, uneingestandenen Begehren, und plötzlich bricht die ganze Welt wie ein Kartenhaus zusammen, erweisen sich die sittsamen Reden über Ehe und Treue, Familienglück und Anstand als Makulatur.
Wellershoff hat darin, durchaus eine Wahlverwandtschaft mit eigenen Schreibansätzen erkennend, zu Recht die „Unhaltbarkeit sich ausgrenzender Reservate des Glücks“ wahrgenommen und dabei wie Adorno auf Borchardts eigene innere Widersprüche hingewiesen. „Wer eine solche Frau besessen hatte, konnte sie nur ein einziges Mal verlieren, und verloren hatte er sie. Wer mit seinem Glücke glücklich gewesen war, konnte nur ein einziges Mal unglücklich werden, und dann für immer“, muss der verlassene Baron resümieren.
Revision ausgeschlossen.
Rudolf Borchardt: „Gesammelte Werke in 14 Bänden“. Klett-Cotta 1999, 298 DM
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