: Jugend geprägt durch Vorurteile
■ Eine Studie der Freien Universität zeigt: Türkische und deutsche Jugendliche wissen viel zu wenig voneinander. Missverständisse führen zu einer „beziehungslosen Beziehung“
Türkische und deutsche Jugendliche in Berlin wissen wenig voneinander. Ihr Bild von der jeweils anderen Gruppen ist von Klischees und Vorurteilen geprägt. Dies führt dazu, dass sie sich von der anderen Gruppe abgelehnt fühlen, ohne überhaupt den Versuch unternommen zu haben, eine Beziehung aufzubauen. Zu diesem Ergebnis kommt der Erziehungswissenschaftler Said Ibaidi von der Freien Universität (FU) in einer Studie, die er am Wochenende auf einem Kolloquium über „Soziale Beziehungen und psychosoziale Befindlichkeit von deutschen und türkischen Jugendlichen“ vorgestellt hat.
In dem von Ibaidi durchgeführten Forschungsprojekt wurden Ende 1997 629 HauptschülerInnen und 476 GymnasiastInnen von elf Schulen in Kreuzberg, Wedding und Schöneberg befragt. 507 von ihnen sind deutscher, 598 türkischer Nationalität. Die meisten sind zwischen 15 und 17 Jahre alt.
„Bei den Jugendlichen differieren Eigen- und Fremdwahrnehmung sehr stark“, fasst Ibaidi die Ergebnisse zusammen. So halten die deutschen Jugendlichen ihre Altersgenossen für viel religiöser, als sich die türkischen Jugendlichen selbst sehen. Auch denken insbesondere die deutschen Jungen, dass türkische Mädchen viel strenger erzogen werden, als die Mädchen das selbst einschätzen. „Deutsche Jungen halten türkische Mädchen also für unnahbar und werden nicht initiativ“, sagt Ibaidi, „die türkischen Mädchen fühlen sich abgelehnt.“ Das führe zu einer gegenseitigen Blockade, einer „beziehungslosen Beziehung“, wie der Erziehungswissenschaftler es nennt.
Die Mehrheit der befragten türkischen Jugendlichen, von denen fast 90 Prozent hier geboren sind, sind sich nicht sicher, ob sie ihr Leben lang in Deutschland bleiben wollen. Auf die entsprechende Frage antworteten nur 35,6 Prozent der türkischen Jungen und 33,8 Prozent der türkischen Mädchen mit Ja. 46,1 Prozent der Jungen und 52 Prozent der Mädchen kreuzten „weiß ich nicht“ an.
Nur 3,5 Prozent der türkischen Jugendlichen fühlen sich „der deutschen Kultur zugehörig“, 68 Prozent der türkischen. Nur wenige gaben „deutsch-türkisch“ an. Diese Antwort musste allerdings auch unter der Bezeichnung „andere“ in einem freien Feld ergänzt werden werden.
Nach Ansicht von Ibaidi widerlegt seine Studie das sehr viel positivere Stimmungsbild, das eine Befragung der Ausländerbeauftragten Barbara John (CDU) unter türkischen Jugendlichen 1997 ergeben hatte.
Ibaidis Ergebnis widerspricht auch einer Untersuchung des Bielefelder Wissenschaftlers Wilhelm Heitmeyer zu „islamisch-fundamentalistischen Orientierungen bei türkischen Jugendlichen in Deutschland“, die 1996 wegen der hohen Zustimmung der befragten Jugendlichen zu islamischem Fundamentalismus und religiös fundierter Gewalt für Aufregung sorgte. Ibaidis Aussage, man solle religiöse Überzeugungen nicht mit Gewalt durchsetzen, stimmten 41,2 Prozent der befragten Jugendlichen „ganz“ und weitere 25,8 Prozent „eher“ zu. 11,2 Prozent halten sie für falsch.
Anders als Ibaidi kommt Ursula Schirmer von der Landesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz zu dem Ergebnis, dass bei Gesprächen zwischen deutschen und türkischen Jugendlichen „unterschiedliche Kulturen kaum eine Rolle spielen“. Schirmer ist Mitarbeiterin eines Projekts, das Kontakte zwischen West- und Ostberliner SchülerInnen herzustellen versucht, türkische Jugendlichen nehmen hieran als WestberlinerInnen teil. Schirmer und ihre KollegInnen befragen die Jugendlichen und bringen jeweils eine Klasse aus dem Ost- und eine aus dem Westteil der Stadt dann für einen Vormittag zusammen. „Türkischen Jugendlichen haben die gleichen Probleme wie andere auch“, so Schirmer auf der FU-Tagung, „Schule, Drogen, Gewalt.“
Dass ihre Situation an den hiesigen Schulen aber schwieriger ist, führte Havva Engin von der Interkulturellen Forschungs- und Arbeitstelle der TU aus. Noch immer sind SchülerInnen türkischer Herkunft stark überproportional an Sonder- und Hauptschulen vertreten, nur knapp 5 Prozent von ihnen machen das Abitur (deutsche SchülerInnen: 31,3 Prozent), ein Drittel verlässt die Schule ohne jeden Abschluss. Sabine am Orde
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