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„Die Wahl ist geheim“

Heute entscheiden die Bewohner Ost-Timors in einem von der UNO organisierten Referendum, ob der Inselzipfel Teil Indonesiens bleibt oder unabhängig wird. Doch die Entscheidung ist gefährlich  ■   Aus Dili Jutta Lietsch

„Autonomie?“ ruft die Greisin mit dem grauen Dutt, schürzt die Lippen und spuckt kräftig auf den Boden. „Unabhängigkeit?“ Schon speit sie erneut. „Mein Geheimnis!“ Sie grinst, schürzt die vom jahrelangen Betelnusskauen blutrot gefärbten Lippen und „pffft!“ –folgt die dritte Ladung.

Die „spuckende Frau“ ist Star einer ungewöhnlichen Laienspieltruppe, die sich innerhalb kürzester Zeit in die Herzen ihrer osttimoresischen Landsleute gespielt hat – dank des allabendlichen halbstündigen UNO-Programms im Fernsehen. Die Alte trat regelmäßig in den Sendungen zur Vorbereitung auf das Referendum auf, das heute über die Zukunft Ost-Timors entscheiden soll.

Für die MitarbeiterInnen der UNO-Mission in Ost-Timor (Unamet), die nur drei Monate zur Vorbereitung der Volksabstimmung Zeit hatten, war dies die größte Herausforderung: Die Bewohner der kleinen Inselhälfte 2.000 Kilometer östlich von Indonesiens Hauptstadt Jakarta davon zu überzeugen, dass sie sich frei und ohne Angst vor Racheaktionen der Verlierer entscheiden können, ob sie künftig als autonome Region bei Indonesien bleiben oder unabhängig werden wollen.

Fast 500 UNO-WahlhelferInnen sind in den letzten Monaten durchs Land gereist, um ihre Botschaft zu verbreiten, die auf blauen Spruchbändern über die Straßen gespannt ist: „Die Wahl ist geheim“. Niemand solle sich ins Bockshorn jagen lassen, wenn Dorfchefs oder pro-indonesische Milizionäre behaupteten, magische Kräfte zu besitzen, um zu wissen, was auf ihrem Stimmzettel steht.

452.000 Osttimoresen, weit mehr als erwartet, haben sich trotz starker Einschüchterung von Unabhängigkeitsgegnern für das Votum registrieren lassen. Doch in den letzten Tagen wuchs unter den UNO-Mitarbeitern die Sorge, dass viele es heute nicht zu ihrer Wahlstation in einen der 200 Abstimmungsorte schaffen könnten: Tausende sind in den letzten Tagen aus ihren Dörfern geflüchtet. In einigen Orten seien in den vergangenen Nächten bewaffnete Gruppen von Haus zu Haus gezogen, um die Wählerkarten zu konfiszieren, berichten Priester in Dili. Die osttimoresischen Mitarbeiter des UN-Flüchtlingswerkes UNHCR wagen sich nach Morddrohungen nicht mehr zur Arbeit. Mehrere einheimische Fahrer von internationalen Wahlbeobachtern wurde ebenfalls bedroht und bleiben seitdem zu Hause.

Wie viele Leute schließlich ihre Stimme abgeben, wird ein Gratmesser für die Einschüchterung sein. Die unbewaffneten Zivilpolizisten und internationalen Beobachter haben keinerlei Möglichkeit, die Wähler zu schützen. „Wir können nur auf den Mut der Leute vertrauen“, sagt ein UNO-Mitarbeiter, „wir können ihnen nicht helfen.“

In letzter Minute haben sich am Wochenende Vertreter der pro-indonesischen Milizen, der Unabhängigkeitsguerilla Falintil, der Polizei und der Armee zusammengesetzt, um ein Ende der Gewalt zu geloben. Jeder, der außerhalb von streng bezeichneten Regionen mit einer Waffe angetroffen werde, solle verhaftet werden, kündigten die Teilnehmer des Treffens gestern an. „Versöhnungstreffen“ mit rührenden Umarmungen und schönen Versprechen hat es aber in der Vergangenheit zuhauf gegeben, und sie wurden stets sofort wieder gebrochen. Die indonesische Armee ließ gestern wissen, sie könne die Sicherheit „nicht 100prozentig“ garantieren und habe vorsichthalber Evakuationspläne vorbereitet.

Ein Hoffnungsschimmer, dass es während und nach der Abstimmung nicht zu Racheaktionen kommt, bleibt immerhin. Der internationale Druck auf Präsident B. J. Habibie hat sich verschärft. In einem Brief drohte US-Präsident Bill Clinton mit schweren Konsequenzen, falls das Referendum scheitert. Armeechef Wiranto soll einige besonders umstrittene Militärs und Geheimdienstler aus Ost-Timor abgezogen haben.

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