: Mehr als eine Utopie
Von der Wirklichkeit der Fiktionen des Jules Verne berichtet eine Ausstellung in Itzehoe ■ Von Hajo Schiff
Sich auf den Weg machen, Abenteuer technisch bestehen, zum Mond fliegen, 20.000 Meilen unter den Meeren reisen oder auf dem Weg zum Mittelpunkt der Erde auch nur nach Schleswig-Holstein: „Von Altona aus kamen wir nach 20 Minuten Eisenbahnfahrt auf holsteinisches Gebiet. Vor den Fenstern zog eine ungeheure Fläche wenig aufragender Ebenen vorbei, einförmig, schlammig, nicht sehr fruchtbar. Plötzlich erkannte ich, wie hervorragend geeignet die Landschaft zur Anlage von Eisenbahnlinien war“, erzählt Professor Lindenbrock im Roman Voyage au Centre de la Terre von Jules Verne.
Der Vater der Sciencefiction-Literatur kannte sich wider Erwarten gut aus bei uns im Norden. Tatsächlich war der längst reich und berühmt gewordene Autor 1881 auf seiner eigenen Dampfyacht „Saint Michel“ durch den alten Eiderkanal von Tönning über Rendsburg nach Kiel gefahren. Diese alte Flußverbindung ist seit dem wenig später erfolgten Bau des Nord-Ostsee-Kanals nur noch in Resten vorhanden, die Reise ist aber gut dokumentiert und gibt der Ausstellung Jule Verne – Technik und Fiktion in Itzehoe das nötige Lokalkolorit.
Ein massiger Ballonkorb in der Haupthalle des alten, zum Museum umgebauten Stadtpalais lädt ein zum Flug in die phantastischen Welten des bis heute populären französischen Schriftstellers, belegt jedoch auch ganz konkret, wie sehr sich der Autor auf reale Entwicklungen stützen konnte. „Was ich auch erfinde, was ich auch tue, ich werde stets bei der Wahrheit bleiben“, sagte der Autor von über hundert Romanen, die den meisten eher utopisch vorkommen. Doch zu seinen Lebzeiten, zwischen 1828 und 1905, wurden so schnell so viele neue Techniken entwickelt oder zumindest die wissenschaftlichen Grundlagen für spätere technische Errungenschaften gelegt, dass Vernes Fiktionen nie gänzlich die Anbindung an die Wirklichkeit verloren. U-Boote wie das von Kapitän Nemo wurden schon 1801 von Robert Fulton in Frankreich und England ausprobiert, 1850 dann von Wilhelm Bauer in der Kieler Förde.
Anschaulich werden solche Zusammenhänge durch eine Tiefsee-Abteilung mit Tauchanzügen und historischen und fiktionalen Schiffsmodellen, wie es überhaupt Methode der interessanten, doch letztlich nicht sehr großen Ausstellung ist, den originalen Texten und Bildern historische und aktuelle Gerätschaften und Konstruktionsmodelle zur Seite zu stellen. Ausgehend von der schnellen Schienenbahn im erst 1994 erstmals gedruckten Text „Paris im 20. Jahrhundert“ wird sogar mit einem Modell für den Transrapid geworben. Die von Verne in diesem Text entwickelte Vision erschien den Zeitgenossen gar zu garstig: eine superschnelle Gesellschaft, deren Werte nur Physik, Chemie, Mechanik und Buchführung sind, während Philosophie und Kunst als dreiste Zeitverschwendung gelten. Ersetzt man Mechanik durch Elektronik, könnte man die Gegenwart durchaus wiedererkennen.
Hubschrauber, Bildtelefon, Fax und städtische Schnellbahnen wurden inzwischen ja längst Realität. Und nur 101 Jahre nach seinem Buch Die Reise zum Mond, dessen astrophysikalische Angaben korrekt – weil mit einem Wisenschaftler abgesprochen – waren, setzte wirklich jemand seinen Fuß auf unseren Begleitstern. Die Fotos der NASA und die historischen Holzstich-Illustrationen der Prachtausgaben von Vernes Büchern haben erstaunlich viele Ähnlichkeiten: den Startort Florida, die ungefähre Form der Kapsel und die Startrampe mit ihren Kränen, die schwebenden Personen und die anschließende Wasserung der Komandokapsel.
Die Bilder der Mondlandung, die im Juli 1969 alle Welt erregten, scheinen dennoch immer noch kaum weniger fiktiv als die im Monitor darüber gezeigte, 1907/1912 gedrehte, Studiophantasie von Melies. Überhaupt das Kino: Die Traummaschine hat Jules Vernes Geschichten geradezu verschlungen. Allein zwischen 1905 und 1984 gab es über 110 Verfilmungen nach seinen Stoffen, davon allein 16-mal Filme zu 20.000 Meilen unter den Meeren.
Ein Besuch der Ausstellung wäre aber nicht komplett, ohne im ersten Stock – inmitten des Art-Deco-Designs bunt-geometrischer Teppiche und schwerer, ebenholzapplizierter Eichenmöbel – die kosmischen Visionen des aus Tschechien nach Itzehoe gekommenen Künstlers Wenzel Hablik zu betrachten. Hat doch der, dem das Museum eigentlich gewidmet ist, nicht weniger utopische Phantasien gehabt. Explodierende Sternenwelten, schwerelose Luftsiedlungen und ufoartige Flugmaschinen sind auf den Zeichnungen und Bildern eines Künstler zu entdecken, der wie so viele in den 20er Jahren die Welt verändern wollte und es doch nur zu neuen Schmucklampen und Tapetenentwürfen gebracht hat.
Wenzel-Hablik-Museum, Reichenstraße 21, Itzehoe, Di - Sa 14 - 18 Uhr, So 11 - 18 Uhr, bis 26. September; Vortrag: „Die ozeanischen Visionen Jules Vernes im Lichte der heutigen Forschung“, Prof. Gerhard Kortum, Institut für Meereskunde, Kiel, heute, 19 Uhr
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