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Doppelte Mutterliebe

Es gibt solche und solche Mütter. Die einen gehen wieder in ihren Beruf zurück, die anderen betreuen derweil deren Kinder. Letztere, also die Tagesmütter, arbeiten zumeist ohne Pflegeerlaubnis. Kontrolliert wird das moderne Ammendasein auch nicht. Das ist zwar laut Gesetz zulässig, aber nach wie vor umstritten. Über Selbstverwirklichung, die nur möglich ist für jene, die Vertrauen haben, berichtet Annett Müller

Dieser Moment hatte anfangs so viel Sehnsucht: Eine Kreuzung in Leipzig. Eine Mutter sieht auf der anderen Seite ihre Tochter. Die Ampel zeigt Rot. Sie winkt. Das Kind bekommt unterdessen von seiner Tagesmutter erklärt: „Siehst du, da drüben steht Mama. Ruf sie mal.“ Die Anderthalbjährige antwortet mit einem Grinsen. Jetzt springt die Ampel um auf Grün. Sie gehen aufeinander zu. Ein Handy klingelt. Die Mutter, Geschäftsfrau eben, muss antworten. Sie nimmt ihr Kind wie eine Einkaufstasche, so nebenbei.

Christina Hansen *, 32 Jahre, ist seit acht Jahren zu Hause, erst der eigenen, nun der fremden Kinder wegen. Sie ist die Tagesmutter. Morgens und mittags trifft sie Hanna Schmidt *. Die eine gibt das Kind ab, die andere nimmt es und umgekehrt. Das verbindet die beiden Frauen, genau das unterscheidet sie. Hanna Schmidt ist 29 Jahre, allein erziehend und arbeitet als selbstständige Kauffrau. „Ich konnte dich vorhin noch nicht einmal richtig begrüßen“, sagt die Mutter zur Mutter. Als Antwort kommt: „Das sag mal lieber deiner Tochter.“ Danach hört Christina Hansen auf, die Mutter für andere zu sein. Sie hat jetzt Dienstschluss.

Früher arbeitete Christina Hansen als Floristin. Schon die Ausbildung war keine einfache. Zig Mal bindet sie Sträuße auf und zu, monatelang. Bis zur Perfektion, erzählt sie, bis der Strauß den Traktor-Test besteht und ihn nichts mehr erschüttern kann. Vielleicht lernt Christina Hansen dabei, dass alles seine Übung braucht und seine Zeit, wie bei Kindern zum Beispiel. Ein paar Jahre später, sie erhält das Angebot für ein eigenes Geschäft, hätte sie so etwas wie Karriere machen können. Noch fehlt ihr der Meistertitel. Da ist sie 26 und entscheidet mit ihrem Mann, „wir bekommen zunächst lieber Kinder“. Das erste, das zweite. Christina Hansen nimmt beruflich eine Auszeit, „denn das war wichtiger als meine paar Mark auf unserem Konto“. Kein Gedanke an einen Krippenplatz oder an eine Tagesmutter. Warum auch? Die Kinder hat sie sich gewünscht, wieso sollte sie sich von ihnen trennen?

Hanna Schmidt ist gleich nach der Geburt ihrer Tochter wieder arbeiten gegangen. Aus finanziellen Gründen, aber auch weil sie denkt, „wenn Sie immer nur mit ihrem Kind alleine sind, dann wird es langweilig, und zwar für beide“. Die Mutter sitzt in der Küche, auf dem Tisch liegt das Handy und schweigt. Im Herd taut gerade eine Pizza auf. Die Tochter hat Hunger. Wenn Hanna Schmidt spricht, dann stellt sie zunächst Theorien auf, wie „Sobald Sie ein Kind haben, müssen Sie alles sehr gut organisieren“, und belegt sie dann mit ihren praktischen Erfahrungen. Anfangs nahm sie ihr Kind mit ins Büro, um weiter zu arbeiten. „Als es krabbeln konnte, wurde es zu schwierig. Da gab es fürs Kind zu viel zu entdecken, denken Sie nur an die Aktenschränke.“ Also plante Hanna Schmidt um und suchte sich eine Tagesmutter. Sie konnte für Stunden zügig im Büro arbeiten. Das war praktisch. Ihr Kind, noch zu „hilflos für eine Kinderkrippe, sollte ein bisschen Familie erleben“.

Die findet sie bei Hansens. In einem Haus mit Garten und einer Wohnküche, wie aus einem Ikea-Katalog. Es riecht nach Spagetti und Tomatensoße, die Kinder kochen. Es riecht nach Rotz und Wasser, weil es nicht gleich gelingt. Es schmeckt nach Kindheit. Nach einer, die nicht vergeht, auch nicht für Mutter Hansen. Sohn und Tochter schickt sie mit drei Jahren in den Kindergarten, „damit sie lernen, auf eigenen Beinen zu stehen“. Plötzlich hat sie ein paar freie Stunden und nutzt sie, ihrem Mann im Architekturbüro auszuhelfen. Hier und da fällt ein Text oder eine Kopie ab, das sind ihre Aufgaben. Als Floristin reicht die Zeit nicht aus, denn „da könnte ich gerade mal die Blumen anschneiden“. So bleibt es das Hobby, zu dem ihr Mann sagt: „Andere häkeln und du machst eben tolle Sträuße.“ Die meiste Zeit aber verbringt Christina Hansen bei Haus, Herd und Kindern. Das bemerkten auch andere Frauen. „Weil die eben fragten“, wird sie Tagesmutter. Anfangs versorgt sie den Bekanntenkreis, inzwischen lässt sie sich durch einen Verein vermitteln. Nun wachsen andere Kinder in ihrer Küche heran.

Eine Mutter wie Christina Hansen ist für Marianne Schumann der Normalfall. Die Soziologin am Deutschen Jugendinstitut in München untersucht seit den siebziger Jahren Tagesmütter und sagt: „Frauen machen diese Arbeit, weil sie sich weiter um die eigenen Kinder kümmern können. Andererseits öffnen sie sich mit den Fremden auch ein wenig nach außen. Genau das reizt sie.“

So selbstverständlich sind Tagesmütter nicht immer gesehen worden. Die Frauenzeitschrift Brigitte brachte sie Anfang der siebziger Jahre ins Gespräch. Wir haben zu wenige Kindergartenplätze, daher brauchen wir Tagesmütter, schrieb die Zeitschrift damals. Die Brigitte-Leserinnen bejubelten den Vorschlag. Eine parteipolitische Debatte folgte, denn Kinderbetreuung war ein Thema, um über die Rolle der Frau zu richten. War nicht der Herd ihr Zuhause? „Man glaubte damals noch mehrheitlich, wer in seinen Beruf zurück will, der ist alleinerziehend und ein finanzieller Notfall. Doch plötzlich wollten das auch Frauen, deren Männer ausreichend Geld nach Hause brachten. Das mussten die Gegner der Tagesbetreuung erst einmal einsehen“, sagt Marianne Schumann. Es war keine leichte Überzeugungsarbeit. Wissenschaftliche Untersuchungen vom Deutschen Jugendinstitut verhalfen der Diskussion zu einem Ergebnis. Es war kein überraschendes: Kinder können von Tagesmüttern ebenso gut betreut werden wie von den eigenen, wenn die Voraussetzungen stimmen. Die Grundsatzfrage war vom Tisch. Gestritten wird hingegen bis heute über eine Ausbildung für Tagesmütter und über eine bessere Bezahlung.

Ein Morgen, ein üblicher. In der Küche von Familie Hansen läuft Deutschlandfunk. „Mein Mann versteht nicht, dass ich immer auf einen Musiksender umschalte. Aber haben Sie mal so viele Kinder im Haus. Da gehen einem die Nerven für Anderes aus.“ Dieser Tag beschert Christina Hansen zwei zusätzliche Kinder, auch das von Hanna Schmidt, der Geschäftsfrau. Es ist acht Uhr. Für die Kinder beginnt ein Spieltag. Christina Hansen koordiniert ihn. Sie macht es unauffällig. Das ist die Mühe daran. Wie oft hat sie von Nachbarn schon gehört, „wie schön, dass Sie den anderen Müttern helfen, wieder dem Beruf nachzugehen“. Als ob Kinder keine Arbeit machten, fragt sie sich dann. „Hatten Sie schon mal vier hungrige Kinder am Tisch, die alle zur selben Zeit einen Eierkuchen wollen?“ Spätestens dann dreht Christina Hansen wohl am Radio.

Was ihre Tageskinder brauchen, hat sich Christina Hansen von den eigenen abgeschaut. In die Rechtsfragen, wie Versicherungen, Steuern, Arbeitsverträge, „bin ich irgendwie durch Erfahrung reingewachsen“, sagt sie. Vor jedem neuen Kind einigt sie sich mit den Eltern auf Stundenzahl, Stundenlohn, auf eine Unfallversicherung und auf spezielle Erziehungswünsche.

Private Vereinbarungen sieht Soziologin Marianne Schumann kritisch. Sie will für Tagesmütter eine öffentliche Fachaufsicht, so wie sie für Krippen und Kindergärten üblich ist. „Schließlich tragen diese Frauen dieselbe Verantwortung.“ Die Praxis wird jedoch anders geregelt. So sind Tagesmütter zu keiner speziellen Ausbildung verpflichtet. Selbst wie viele in dieser Branche arbeiten, ist unklar. Vor Jahren noch mussten sich Tagesmütter, sobald sie ein Kind betreuten, beim Jugendamt melden. Nach Prüfung der Wohnverhältnisse erhielten sie eine Pflegeerlaubnis. Ein Gesetz, das nur wenige befolgten. Seit 1996 wird eine Pflegeerlaubnis erst ab dem vierten Tageskind verlangt. Ein Zugeständnis an den privaten Markt. Ein Zugeständnis, das sie entsetzt habe, sagt Schumann. „Die Praxis zeigt doch, dass es immer wieder Tagesmütter gibt, die unter Niveau betreuen, und Eltern, die sich dagegen nicht wehren können.“

Während Soziologin Marianne Schumann an Risiken denkt, setzt Thomas Lakies auf Vertrauen. Er ist Richter in Berlin, auf Kinder- und Jugendhilferecht spezialisiert und geht davon aus: „Eltern wissen, was sie tun. Sie schauen sich die Tagesmutter und deren Wohnung an. Und wenn sie der Meinung sind, diese Frau sorgt für das Kind, dann mag man auch darauf vertrauen.“ Zugleich regelt das Gesetz, Eltern als auch Tagesmütter können sich in allen Fragen vom Jugendamt beraten lassen. Eine freiwillige Möglichkeit, Fehlern vorzubeugen oder sie aus dem Weg zu räumen. Damit müsse, so sagt Lakies, der Staat auch keine Pflegeerlaubnis erteilen. Seine Aufgabe sei es, bei Missbrauch einzugreifen, aber nicht von Ausnahmen Regeln für den Normalfall abzuleiten. „Es gibt immer wieder Fälle von Missbrauch“, argumentiert Lakies. „Die gibt es aber auch in Elternhäusern. Haben wir deswegen die Erlaubnis eingeführt, Mutter und Vater werden zu dürfen?“

Fernab dieser Diskussion sind sich Hanna Schmidt und Christina Hansen begegnet. Durch private Empfehlung. Da hatte Hanna Schmidt schon mehrere Versuche hinter sich. Eine Nachbarin, die „nur erzählte, wie toll ihr Kind sei“, und eine Studentin, die sie zu häufig in der gleichen Wohnzimmerszene antraf: das Kind sich selbst unterhaltend, die Tagesmutter in ein Buch vertieft. „Ich wollte mein Kind nicht irgendwo abstellen und parken. Es soll weiter kommen, auch wenn ich nicht da bin.“ Nun ist es in Hansens heiler Welt. Hier gibt es Märchen zum Einschlafen und frische Brötchen zum Frühstück. Es gibt Gesundheitsstühle für die Kinder, und die Eltern haben sich zu Weihnachten ein französisches Kochbuch gegönnt. „Frau Hansen erspart meiner Tochter den Stress, den ich habe“, sagt Frau Schmidt. Sie denkt wie immer praktisch. „Wissen Sie, die ersten Jahre sind immer die schönsten. Das Leben wird auch so noch hart.“

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