: Modernes Lesen
■ Neue Bücher kurz besprochen von Volker Weidermann
Männerfantasien
Seit anderthalb Wochen sind 71 ICE-Leuchtvitrinen mit ihrem Bild geschmückt. In den Hauptbahnhöfen von München und Frankfurt hängen Großbanner, die ihr neues Buch ankündigen. Die Homepage zum Buch verzeichnete schon vor dem Erscheinungstermin bis zu 20.000 page-impressions täglich. Bei libri.de wird es gemeinsam mit den Werken Judith Butlers angeboten. Und die Playboy-Redaktion hat gleich mal sechs Rezensionsexemplare angefordert. Im neuen Heft soll es zu dem Buch eine ganze Seite geben: Eine neue Autorin und ihr erstes Buch. Jessica McWhorter ist 26, Kind einer „deutsch-amerikanischen 68er-Union“, wie sie sagt, lebt in Berlin und stellt in ihrem Erstlingswerk die sogenannte „Nichtfrau“ vor. Die Nichtfrau zeichnet sich durch eine unbändige Freude an der Negation aus, durch eine manische Ablehnungsbegeisterung, einfach dadurch, dass sie immer nicht sagt, „in jeder Form, zu jedem Anlass und überall“. So steht es im Buch. Sie habe damit „einen neuen Typ Frau“ entdeckt, „der wie kein anderer unseren Alltag prägt“, schreibt McWhorter. Ja, dieser Typ Frau sei so wahnsinnig typisch, dass man sogar sagen könne, dass jede Frau eine „Nichtfrau“ sei.
Das wird dann in 20 Kapiteln, die sich alle um ein solches typisches nicht-Zitat ranken, ausgeführt. Und jedes dieser Kapitel, die so bekannte Zitatsituationen vorstellen wie „Versteh das bitte nicht falsch“, „Nicht wie meine Schwester“, „Du würdest es nicht mit mir aushalten“ und – so eine Art Grundgesetz jeder Frau (= Nichtfrau) – „Nicht wie meine Mutter“, ist von so einer traurigen plattitüdenhaften Plattheit, dass es einem die Sprache verschlägt.
McWhorter hat einige ihrer Texte zuvor im Internet unter Männerpseudonym veröffentlicht und viele begeisterte Zuschriften erhalten. Einige davon sind im Buch abgedruckt, andere kann man täglich neu unter www.nichtfrau.de nachlesen. Meist schreiben Männer. Männer, die unter dem weiblichen Negationsterror leiden und kein Nein mehr hören wollen. Einer leidet unter seiner Frau mit Namen Kathy: „Kathy führt zur Ausrottung der Menschheit“, schreibt er. „Ich würde sie gerne massakrieren. Aber so, wie du das machst, ist es sicher besser.“ Ein anderer deliriert ins Netz, dass er mit 18 Jahren erkannt habe, dass alle Frauen „verdammte Nichtfrauen“ seien. Darauf sei er schnell schwul geworden. McWhorter fördert die ätzendsten Männerfantasien zu Tage. Beabsichtigt war das wohl nicht. Jessica McWhorter: „Die Nichtfrau“. dill verlag 1999, 122 Seiten, 24,80 DM
Verfallsgeschichte
„Diese lächerliche und schädliche Sache, die sich Literatur nennt, aus meinem Leben auszumerzen“, das war so eine Art Lebensprogramm des großen Triester Schriftstellers Italo Svevo (1861 bis 1928, eigentlich hieß er Ettore Schmitz), als er schon längst in der Firma für algen- und muschelabweisende Schiffsanstriche seiner Schwiegereltern angestellt war. Tatmensch werden, Träumereien einstellen, die Fin-de-Siècle-Krankheit „Überfeinerung“ überwinden.
Doch auch der erfolgreiche Geschäftsmann Svevo ließ das Schreiben nicht ganz sein, sondern machte sich stets nach Feierabend noch daran, das Innenleben der bürgerlichen Gesellschaft und seinen eigenen Tageskampf in mehreren Romanen ironisch zu durchleuchten. Aber im Grunde war er Geschäftsmann geworden. Von Disziplin und Haltungswillen ganz durchdrungen, erklärte der Bürger Svevo noch auf dem eigenen Sterbebett stramm: „Kinder, schaut zu, wie man stirbt.“ Am Ende hatte der Bürger den Schriftsteller Italo Svevo gänzlich verdrängt.
Sein Bruder Elio Schmitz hat diese Verdrängungsenergie nie aufgebracht. Er führte ein kurzes, schwärmerisches Leben. Er war ein Untergeher, ein feiner Geigenspieler, ein Bewunderer, ein Leider und ein Träumer, der lieber las als lebte. Ein früher Hanno Buddenbrook. Prototyp eines sich ankündigenden Zeitalters. Mit sechzehn begann er ein Tagebuch zu schreiben, das jetzt erstmals auf Deutsch veröffentlicht wurde. Es ist eines der ganz wenigen Zeugnisse über das Leben und den Untergang der „unglücklichen Familie Schmitz“ (Svevo), einer assimilierten jüdischen Triester Kaufmannsfamilie, die innerhalb weniger Jahrzehnte ihren Aufstieg aus dem Nichts und ihre Rückkehr dorthin erlebte. Und es ist das Protokoll vom Werden eines Schriftstellers, vom Beginn der Karriere des Italo Svevo, dessen erste literarische Versuche (die meist unvollendet im Feuer landeten) alle von seinem Bruder bewundernd registriert wurden. „Nicht einmal Napoleon hatte einen Chronisten, der ihn so bewunderte wie ich Ettore“, schreibt Elio. Doch dann erkrankte der neunzehnjährige Elio an einer damals unheilbaren Nephritis und die letzten Seiten seines Tagebuchs sind nun ausschließlich der leidenden Selbstbetrachtung gewidmet. Es ist die Chronik eines Décadent, der nur noch sich selbst, die eigene Krankheit, den eigenen Verfall protokollierte. Er starb am 26. September 1886. Italo Svevo schreibt: „Bis nach dem Mittagessen hatte er noch über Politik und Kunst gesprochen.“ Elio Schmitz/Italo Svevo: „Meine alte, unglückliche Familie Schmitz“. Hrsg. und aus dem Italienischen übersetzt von Ragni Maria Gschwend. Paul Zsolnay Verlag 1999, 240 Seiten. 36 DM
Ja, Leidenschaft
Das kommt bei den Büchern des amerikanischen Philosophen Michael Walzer schnell im Vorwort und in einem Satz: „Ich gehe davon aus, dass wir eine politische Theorie brauchen, die im Stande ist, demokratische Mobilisierung und Solidarität zu erfassen, zu erklären und zu unterstützen.“ Walzer weitet seit Jahren seine „Liberalismuskorrektur mit kommunitaristischen Mitteln“ von Politikfeld zu Politikfeld weiter aus. Heute: Die Leidenschaften. Walzer wirft den liberalen Theoretikern in der letzten seiner Max-Horkheimer-Vorlesungen, die er vor einiger Zeit in Frankfurt hielt und die jetzt als Buch erschienen sind, vor, die Leidenschaften im politischen Prozess sträflich zu vernachlässigen. Diese müssten notwendigerweise mitgedacht werden: erstens, um politsche Entscheidungprozesse genauer beschreiben zu können, und zweitens, um wirksames, aktives politisches Engagement überhaupt erst zu ermöglichen. „Nichts Großes ist jemals ohne Enthusiasmus vollbracht worden“, zitiert er zustimmend Raph Waldo Emerson.
Zugegeben, schreibt Walzer, Leidenschaften in der Politik bergen auch Risiken. Aber die lassen sich nicht vermeiden, „es sei denn, man gibt jede Hoffnung auf große Leistungen, ob nun gute oder schlechte, auf“, schreibt Walzer. Seine Kritik wendet sich vor allem gegen jene Fortentwicklung liberaler Theorien in den letzten Jahren, die sich ausschließlich mit der theoretischen Perfektionierung leidenschaftsloser, vernünftiger Verfahrensregeln befasst habe. Die Vernunft muss mit Leidenschaften angereichert werden, so Walzer. Mit welchen? Wer entscheidet? Das bleibt die Schwierigkeit. Doch Michael Walzer ist ein ungeheurer politischer Optimist und sagt: „So sehen die Dinge aus: Es gibt ,gute‘ und ,schlechte‘ Verbindungen von Vernunft und Leidenschaft, die wir vernünftig und leidenschaftlich unterscheiden.“ Michael Walzer: „Vernunft, Politik und Leidenschaft. Defizite liberaler Theorie“. Fischer Taschenbuch 1999, 95 Seiten, 22,90 DM
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