: Der Heidenmord
Island 2000 (III): Die Christen feiern, die Heiden trauern. Die Festlichkeiten zu 1.000 Jahren Christentum werden von einem schweren Verbrechen überschattet ■ Von Wolfgang Müller
Pünktlich zum Jubiläum im Jahr 2000 ist die Fußbodenheizung unter den Gehsteigplatten vor der Hallgrimskirche fertig. Kein Mensch kann mehr ausrutschen beim winterlichen Kirchenbesuch. Im Jahr 1000 soll der heidnische Obergode Thorgeir auf dem Parlamentsplatz, dem Thingvellir, den Isländern die Annahme des Christentums angeraten haben, manche Forscher gehen allerdings davon aus, dass diese Abstimmung im Jahr 999 oder erst 1001 stattgefunden hat. „Es gibt drei Ereignisse im Jahr 2000 zu feiern. Der isländische Wikinger Leifur Eriksson entdeckt als erster Europäer im Jahr 1000 Amerika, Reykjavik ist europäische Kulturhauptstadt 2000 und schließlich, das mit Abstand wichtigste Ereignis seit tausend Jahren: die Annahme des Christentums durch das Althing“, so Bernhardur Gudmundsson, der Koordinator der Kirchenfeiern für das Jahr 2000.
Sein Büro ist im zweiten Stock über einem christlichen Buch- und Postkartenshop auf der Hauptstraße Laugavegur im Kirkjustofa-Haus untergebracht. Ein erster Bekehrungsversuch im Jahr 988 durch einen sächsischen Bischof namens Fridrik schlug übrigens fehl. Isländer verspotteten ihn und seinen isländischen Freund Thorvaldur in einem Vers als homosexuelles Paar, woraufhin Thorvaldur die Urheber des Schmähgedichtes totschlug und mitsamt des Bischofs eiligst das Land verlassen musste. Auch ein zweiter Versuch durch einen Deutschen namens Thangbrandur missglückte, dieses Mal mussten drei Isländer den Missionsbesuch mit dem Leben bezahlen.
Den Elfenkult in die Schranken weisen
Leiten wird die christlichen Festlichkeiten der neue Bischof von Island, Karl Sigurbjörnson, dessen Vorgänger wegen eines ungeklärten Sexualdeliktes zurücktreten musste. Der Bischof hat auch in Deutschland von sich reden gemacht, da er den auf Island grassierenden Elfenkult in seine Schranken wies: Elfen sind Folklore und Engel sind Glauben, ließ er anlässlich der elfischen Weihung des Hvalgöngur, eines unterfjordischen Straßentunnels, verlauten. Für das nun anstehende Ereignis hat die lutherische Kirche eigene Singspiele komponieren lassen, eine Oper von Atli Sveinsson über die Annahme des Christentums in Auftrag gegeben und eine internationale Konferenz mit Geistlichen und Wissenschaftlern aus dem Institut für Zukunftsfragen einberufen. Thema: Glauben in der Zukunft. „Übrigens“, so ergänzt Bernhardur Gudmundsson, „reiste ja mit dem ersten Isländer in Amerika auch seine Frau Gudridur, die dort ihr Kind Snorri gebar. Es war seinerzeit die wohl weitgereisteste Frau der Welt. Sie ging später nach Rom, um Nonne zu werden, und kam als solche wieder nach Island zurück.“
Als Forscher in den 70er-Jahren unseres Jahrhunderts darangingen, nach den mittelalterlichen Aufzeichnungen der Sagas archäologische Ausgrabungen an der Ostküste Neufundlands zu machen, kam im L'Anse Aux Meadow tatsächlich ein Wikingergehöft zum Vorschein. Isländische Archäologen graben zurzeit in Reykholt, dem Wohnort des mittelalterlichen Skaldendichters und Politikers Snorri Sturluson. Von ihm ist neben der ihm zugeschriebenen Snorra-Edda immerhin ein Hot Pot, ein Badebecken aus dem 13. Jahrhundert, erhalten geblieben, damit das wohl älteste Bauwerk Islands. Möglicherweise ist der nun freigelegte Steinwall die Verteidigungsbefestigung, von der in der Sturlunga-Saga die Rede ist.
Die Geschichte der christlichen Kirche Islands ist im Vergleich mit der des Kontinents ziemlich unblutig. Zwar wurde der letzte katholische Bischof, der unbeugsame Jón Arason, mit seinen beiden Söhnen im Jahr 1550 von fanatischen Lutheranern geköpft – was in der Jubiläumsbroschüre „The Church of Iceland“ durchaus bedauert wird. Aber in der Zeit der Hexenprozesse gab es nur ein einziges Todesurteil an einer vermeintlichen Zauberin. Dazu kommen allerdings noch die 22 Männer aus den Nordwestfjorden, die wegen Hexerei angeklagt und hingerichtet wurden.
Auch im sozialen Bereich ist die Kirche sehr aktiv. Die Organisation der Gehörlosen, die Heynarlausa, hat gerade 70.000 Kronen, 1.800 Mark, für Seelsorge von der Kirche bekommen. Zudem gibt es eine eigene Gebärdensprach-Priesterin: Miyako Thórdarson. Die Japanerin kam nach Island, um die Sprache zu lernen, heiratete einen Isländer und konvertierte zum Protestantismus. Der Seelsorger für die Immigranten des Landes heißt Toshiko Tona und ist ebenfalls einer der knapp fünfzehn auf Island lebenden Japaner. Er ist mit einer isländischen Pastorin verheiratet.
Und wie steht die Kirche zur heidnischen Glaubensgemeinschaft, zur Ásatrúarfélagid? Immerhin war es ja ein Heide, der vor 1.000 Jahren für die Annahme des Christentums plädierte. Bernhardur Gudmundsson lehnt sich zurück in seinen Sessel und schüttelt den Kopf: „Ja, ja, diese Männer mit den langen Bärten, die sich wie Wikinger kleiden ...“ Mit beiden Händen langt er an sein Kinn und zieht einen imaginären Bart in die Länge: „Ein Medien-Event ist das, mehr nicht.“ Anschließend holt er eine Broschüre aus dem Regal: „Die haben 200 Mitglieder“, er blättert und korrigiert: „Na ja, genau genommen 282. Darunter nur 43 Frauen.“ Er steht auf und schiebt das Heft wieder zurück: „Wir haben ja auf Island vor wenigen Tagen den ersten Mord seit Jahren gehabt. Das war auch ein Mitglied der Heiden!“ Der Mörder? „Nein, der Ermordete“, korrigiert mich Bernhardur und seufzt: „Nun sind sogar Vorbereitungen für eine heidnische Beerdigung in Gang.“ Es wäre das erste Begräbnis dieser Art seit der Christianisierung Islands.
Allsherjargodi, also Obergode, steht als Berufsbezeichnung im Telefonbuch. Islands Heidenchef Jörmundur Ingi Hansen schlägt als Treffpunkt das Café Paris gegenüber dem Parlament vor. Ich würde ihn schon erkennen, sagt er, am langen, weißen Bart. Tatsächlich sitzt zur verabredeten Zeit ein Mann mit weißem Bart, grauem Zweireiher und einem Handy in der oberen Jackentasche an einem Tischchen und isst ein Krabben-Ei-Sandwich auf Salat-Beet, offensichtlich Jörmundur Ingi Hansen. Um ihn versammelt eine Reihe älterer Herrschaften. „Ich bin gleich fertig. Setzen wir uns an einen anderen Tisch, da ist es etwas ruhiger“, sagt der in geheimer Wahl 1995 zum Obergoden Gewählte und rafft seine Zigarren zusammen. „Wissen Sie, die so genannte Bekehrung der Isländer fand bereits im Jahr 999 statt und war nichts weiter als die Folge des norwegischen Handelsembargos. Der norwegische König hatte außerdem ein paar bekannte, im Land weilende Isländer als Geiseln genommen und wollte sie kastrieren und blenden lassen, wenn sich die Isländer nicht endlich christianisieren lassen würden.“ Er lacht, streicht mit seiner Hand über das große silberne Amulett auf seiner Brust, auf dem Yggdragsill, die Weltesche, abgebildet ist. Das sei heute nicht anders. Um Handel mit dem Westen zu treiben, hätte der Osten doch auch die Gesetze des Kapitalismus einführen müssen.
„Wir Isländer waren immer im Handel tätig. Stockfisch, Schafswolle und Schwefel wurden seit Jahrhunderten bis nach Portugal und Spanien exportiert“, sagt der ehemalige Kaufmann, der vor seiner Pensionierung Messestände und Inneneinrichtungen für Geschäfte aus Deutschland nach Island importierte. Doch sogar die damals sehr begehrten Eisbärfelle wären aus Island gekommen – das eisbärlose Land, so Jörmundur, habe hervorragende Imitationen aus besonders langem Lammhaar hergestellt. „Was ich nicht verstehe, ist, warum zum 1.001. Geburtstag nicht die Geburtstagskinder eingeladen worden sind. Also die Heiden und die Katholiken“, schmunzelt Jörmundur und streicht ein Aschehäufchen weg, das sich von seiner Zigarre gelöst hat und auf das Tischchen gefallen ist. In Wahrheit sei der 1.000-jährige Kirchengeburtstag ja eigentlich im Jahr 2056 zu feiern, da die isländische Kirche erst 1056 gegründet wurde. „Was die Kirche jetzt feierlich begeht, ist dieses Abkommen zwischen Heiden und christlicher Bewegung – sonderbar!“ Mindestens 200 Jahre nach diesem Vertrag hätte es ein friedvolles Nebeneinander von Heiden und Christen auf Island gegeben.
Bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts gab es keine Animositäten gegen die alte Religion. Im Gegensatz zu Skandinavien sind in den Volksüberlieferungen und der mittelalterlichen Literatur auch besonders viele heidnische Einflüsse zu finden. Den Protest des isländischen Bischofs Karl Sigurbjörnsson anlässlich der Elfenweihe des Hvalgöngurtunnels kann der Obergode nicht verstehen: „Der hat sich damit doch selbst zum Idioten gemacht! Nun, das scheint noch immer nach den alten Gesetzen der Bischofsfamilie zu funktionieren. Die Kirchenfunktionäre sind nämlich alle miteinander verwandt. Um ehrlich zu sein, ich selbst bin, wenn auch weit entfernt, mit ihnen ver- wandt ...“, lacht Jörmundur und gießt Kaffee nach, während sein Handy klingelt.
In zwei Tagen soll die erste heidnische Beerdigung Islands seit Menschengedenken stattfinden. Jörmundur muss wichtige Entscheidungen über den Ritus treffen und ist am Ablauf der Zeremonie maßgeblich beteiligt. „Nun, der Koordinator für die Kirchenfeierlichkeiten, Bernhardur Gudmundsson, erzählte mir von diesem Mord, der vor wenigen Tagen im heidnischen Umfeld geschah ...“, werfe ich ein. „Es handelt sich um den Mord eines Christen an einem Heiden. Der Mörder war Christ!“, betont Jörmundur und schüttelt verständnislos den Kopf: „Das Opfer Agnar Agnarsson hat unsere Web-Seiten für das Internet gestaltet. Wir werden die Zeremonie in einem Steinschiff abhalten. Wenn die Sonne direkt vor dem Schiff steht, wird sie stattfinden.“ Auf die Frage, ob es auch einen heidnischen Tempel gebe, reagiert der Obergode etwas zerknirscht: „Nein, wir werden uns in der Kirche versammeln. Es gibt ja sonst nichts anderes. Aber die Beerdigung wird nicht auf dem Friedhof, sondern auf einem Grundstück neben diesem vollzogen.“
In Islands größter Tageszeitung, dem morgunbladid, hebt sich die Todesanzeige von Agnar Agnarsson auffällig ab. Statt dem üblichen Kästchen mit Foto und christlichem Kreuz zeigt es ein in einem Kreis eingefasstes gleichschenkliges Kreuz. Und dieses Motiv ist zweimal, nämlich schwarz auf rot, gedruckt. Nur bei genauem Hinsehen wird deutlich, dass das überdruckte, fast unsichtbare Rot die einzige Farbe auf der ganzen „Minningar“, der Totengedenk-Seite, ist.
Und die Zukunft der Ásatrúafélagid, wie sieht die aus? „Die Zahl von 282 Mitgliedern, die von der Kirche verbreitet wird, ist falsch“, sagt Jörmundur und wedelt mit der Hand in der Luft, „es gibt allein 320 Mitglieder, die in Island leben und ihre Kirchensteuern an uns zahlen. Daneben wohnen viele Mitglieder im Ausland, sodass eher von 450 Mitgliedern auszugehen ist. Jedes Jahr haben wir einen Zuwachs um 25 Prozent.“ Die Kirche verliere dagegen ständig Mitglieder. Wenn die Entwicklung so anhalte, werden zu ihrem 1.000-jährigen Jubiläum 2056 nur noch Heiden auf Island leben, prophezeit er selbstbewusst.
Doch da bis dahin die Zeit noch etwas lang ist, plant Ásatrúafélagid ein Festival auf dem Thingvellir, wie die lutherische Kirche ebenfalls im Jahr 2000. 2000? Wieso denn das? „Das ist einfach ein schönes Datum“, meint Jörmundur und wehrt einen jungen Mann ab, der, offensichtlich stark betrunken, um eine milde Gabe bittet: „Jörmundur, gib mir 500 Kronen für ein Bier!“, lallt der, während der Angebettelte mir schon im Gehen zuruft: „Sie können gern am Montag zur Beerdigung kommen!“
Ein grauer Schleier über dem Himmel am 26. Juli 1999. Dauersprühregen benetzt das lange weiße Gewand und den dunkelblauen Umhang, mit welchem der Obergode aus dem Charterbus in die Fosskirche am Stadtrand eilt. Von Sonne keine Spur. Die Opernsängerin Sigrún Hjálmtýsdóttir – übrigens die Schwester von Grand-Prix-Star Páll Óskar – singt von der Empore „An die Musik“ von Schubert, und Gitarrist Gudlaugur Óttarsson spielt mit geschlossenen Augen eine fremdartig psychedelische Komposition namens „Sirius og Völuspá“.
Die Heiden der Welt trauern mit uns allen
Dazu parallel läuft ein Band mit Computermusik. Das passt gut, da ja das isländische Wort für Computer „tölva“ aus „völva“, Prophetin, Seherin, und „tala“, Zahl, konstruiert worden ist. Völuspá dagegen sind die Weissagungen der Seherin, mit denen die altisländische Edda eingeleitet wird. Der Obergode steht vor einem großen, aus Metall und Lichteffekten kompliziert konstruierten Christuskreuz und verliest Beileidskundgebungen von Heiden aus aller Welt, während schließlich sechs schwarz gekleidete Frauen den Sarg aus der Kirche tragen. Die Grabstätte liegt tatsächlich etwas abseits des Friedhofs. In einem großen Steinkreis, der die Form eines Schiffes bildet, stehen der mit Wildblumen und Blättern geschmückte Sarg, ein Tisch mit Metallreif und Tannenzapfen sowie eine Schale mit Birkenholz. Als der Heidenpriester das Feuer entfacht, beginnt das isländische Fernsehen mit den in schwarzer Plastikfolie geschützten Kameras zu drehen. Jörmundur erhebt seine Stimme und mit ihr den Tannenzapfen. Während er mit fester Stimme Passagen aus der Edda rezitiert, nimmt der Wind zu. Böen lassen die Blätter der frisch gepflanzten Esche am Grab heftig zittern, derweil Islands bekannteste Interpreten der alten Singsang-Sprechreime, „rimur“ genannt, Steindór Andersen und Sigurdur Sigurdarson ihre Kunst zum Besten geben. Beim letzten Gruß am Grab teilt sich die Gesellschaft nicht nur in die Kreuze formende christliche und die mit zum Boden geneigter Hand heidnische. Nein, auch Kreise formende, Punkte in die Luft setzende, kurz nickende, auf die Knie fallende mit gefalteten Händen und merkwürdige Formeln murmelnde Trauergäste entbieten ihren Gruß. Diese Gesellschaft scheint überaus pluralistisch zu sein.
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