: Tschernobyl noch heute frisch auf den Tisch
Jeden Tag ein guter Grund für den Atomausstieg: Pilze und andere Waldfrüchte reichern Radioaktivität an ■ Von Constanze Oehlrich
Berlin (taz) – In den vergangenen Wochen hat der französische Zoll mehrere Tonnen cäsiumverseuchte Speisepilze beschlagnahmt. Die aus Bulgarien und der Ukraine stammenden Pilze überschritten den zulässigen Grenzwert für Cäsium teilweise um das Vierfache.
So hielt der Zoll in Straßburg Anfang September mehrere bulgarische Lastwagen auf, die mit acht Tonnen Pfifferlingen, Herbsttrompeten und Stachelpilzen beladen waren. Der in Plowdiw ansässige Exporteur hatte den Pilzen durch gefälschte Papiere eine radioaktive Strahlung von 50 Becquerel pro Kilo bescheinigt, tatsächlich erreichte die Ladung aber einen Spitzenwert von rund 2.400 Becquerel pro Kilo.
Pilze nehmen radioaktive Strahlung aus dem Boden auf – selbst wenn die Verstrahlung des Erdreiches schon Jahrzehnte zurückliegt. Cäsium gehört zu den radioaktiven Elementen, die 1986 durch das Atom-Unglück in Tschernobyl freigesetzt worden waren.
In seiner „Verordnung über die Einfuhrbedingungen für landwirtschaftliche Erzeugnisse mit Ursprung in Drittländern nach dem Unfall im Kernkraftwerk Tschernobyl“ hatte der damalige Europäische Ministerrat 1987 festgelegt, dass Milch und Nahrungsmittel für Kleinkinder nicht mehr als 370 Becquerel pro Kilo aufweisen dürfen. Für alle anderen Lebensmittelimporte gilt ein Grenzwert von 600 Becquerel.
Nachdem vor einem Jahr in den Staaten der Europäischen Union größere Mengen radioaktiv verseuchter Pilze entdeckt worden waren, hatte die EU-Kommission eine Verschärfung der Importkontrollen in Angriff genommen. Doch durchlässig bleiben die Grenzen allemal.
Und Ausweichmanöver auf hiesige Pilze bringen nicht viel. Denn im letzten Jahr vorgenommene Messungen des Münchener Umweltinstituts (UIM) ergaben für Maronen aus Süddeutschland Spitzenwerte von bis zu 2.400 Becquerel pro Kilo. Auch in anderen Regionen, wie etwa in der Umgebung von Münster oder Bonn, wurden Werte von mehreren hundert Becquerel gemessen. Bei Pilzarten wie Hallimasch oder Champignon, die nicht zu den Röhrlingen gehören, sieht es etwas besser aus. Da liegen die Meßwerte dann meist schon unter 100 Becquerel pro Kilo.
Ebenfalls betroffen sind Waldfrüchte wie zum Beispiel Himbeeren, Brombeeren, Heidelbeeren und Preiselbeeren. Meist liegen deren Messwerte bei einigen Dutzend Becquerel, können aber im Einzelfall auch Spitzenwerte von 200 Becquerel pro Kilo erreichen. Kein Wunder, dass der aus den Blüten der Pflanzen gewonnene Honig ähnlich belastet ist.
Und daran wird sich, so Holger Melzer, Pressesprecher des UIM, in der nächsten Zeit nur wenig ändern. Denn Cäsium hat eine Halbwertzeit von 30 Jahren. In diesem Zeitraum zerfällt nur die Hälfte der Cäsium-Atome. Der Rest strahlt weiter.
Noch 13 Jahre nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl rät Melzer deshalb zur Vorsicht. Radioaktive Strahlen sind zellschädigend, sie können daher Krebserkrankungen auslösen oder fördern. Außerdem können sie das Erbmaterial verändern und so bei Embryos zu Missbildungen führen.
„So 'n alter Knochen wie ich, der sich nicht mehr reproduzieren will, kann ab und zu mal belastete Pilze essen“, sagt Melzer. Aber Schwangere, Kleinkinder und Jugendliche sollten jegliche radioaktive Belastung tunlichst vermeiden. „Wenn schon Pilze, dann keine Röhrlinge. Wenn schon Röhrlinge, dann keine Maronen“, heißt seine Faustregel. Und Produkte aus besonders belasteten Regionen wie der Ukraine, Weißrussland, Mittel- und Nordschweden sowie dem Alpenraum sollten möglichst gemieden werden.
„Ganz autonom als Pressestelle“ spricht Melzer sich für einen Grenzwert von 50 bis 60 Becquerel aus. Diese „Hausnummer“ ist für ihn bereits „äußerst kritisch“. Arthur Junkert, Pressesprecher des Bundesamtes für Strahlenschutz, sieht das ein bisschen anders. Er will nicht über Radioaktivität reden, sondern über die tatsächliche Strahlendosis, der die Menschen ausgesetzt sind, und rechnet die in Becquerel angegebenen Messwerte deshalb in Sievert um.
70.000 Becquerel Radiocäsium entsprechen einer Strahlenexposition von etwa einem Millisievert. Oder, wie Junkert es ausdrückt: „Eine Pilzmahlzeit mit 200 Gramm höher kontaminierten Maronenröhrlingen aus Südbayern hätte eine Exposition von 0,01 Millisievert zur Folge. 0,01 Millisiervert sind jedoch gesundheitlich unbedenklich. Das entspricht weniger als einem Hundertstel der jährlichen natürlichen Strahlenexposition.“
Und die liege in Deutschland durchschnittlich bei 2,4 Millisievert. „Ich will das nicht wegdiskutieren“, sagt Junkert. „Ich will da anfangen, wo wirklich eine Gefahr besteht.“ Da liegt das Problem: Wer weiß das schon so genau?
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