Lieber Geschäfte als Zensur

■  Gipfelkonferenz von Bertelsmann: Der Staat soll das Internet in Ruhe lassen

Nächsten Mittwoch will das Berliner Kabinett einen „Aktionsplan“ verbschieden, der den schönen Titel trägt: „Innovation und Arbeitsplätze in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts“. Doch was auch immer eine deutsche Regierung vorstellen mag, Bertelsmann ist ihr um Jahre voraus. Der Konzern ist in die Führungsetage des Internetgeschäfts aufgestiegen. Letzten Montag verhandelte Vorstandschef Thomas Middelhoff in Paris im Rahmen des „Global Business Dialogue on Electronic Commerce“ (www.gbde.org) über die Grundregeln des Gewerbes. Middelhoff stand dem Leitungsausschuss dieser Konferenz vor, in dem noch Gerald Levin von Time Warner und Michio Naruto von Fujitsu saßen – der eine kümmerte sich sich um Nord- und Lateinamerika, der andere um den asiatischen Raum.

Mark Wössner wiederum, erst letztes Jahr vom Vorstandschef der Bertelsmann AG zum Leiter der Bertelsmann-Stiftung aufgestiegen, stellte am Wochenende den eher ideellen Hintergrund des deutschen Global Players der Öffentlichkeit vor. Selbstbewusst lud er zum „Internet Content Summit“ in die Münchener Residenz, um den deutschen Innenminister Otto Schily eine „Memorandum“ genannte Broschüre zu überreichen. Sie formuliert, was Bertelsmann von dieser und allen anderen Regierungen erwartet. Vor allem eines: Sie sollen sich raushalten und den Job denen überlassen, die etwas davon verstehen.

Zwei Tage lang versuchte ein gutes Dutzend Referenten dem Titel und Schauplatz des Ereignisses gerecht zu werden. Es gelang ihnen beinahe ausnahmslos gut. Monatelang hatte die Stiftung 30 Fachleute, darunter auch aus dem besonders zensurfreudigen Singapur, online darüber diskutieren lassen, ob und wie die Informationsflut des Internets zu regeln und mit nationalen und internationalen Rechtsvorschriften in Einklang zu bringen sei.

Eher Anlass als Ziel dieser Anstrengung waren die Skandale um Kinderpornografie, Rassismus und Gewalt, die das Internet in den letzten Jahren in die Schlagzeilen gebracht haben. Zweifellos hat Bertelsmann, selbst zur Hälfte am Kapital der europäischen Tochter des amerikanischen Onlinedienstes AOL beteiligt, ein unmittelbares Interesse, jeden Verdacht zu widerlegen, kriminelles oder auch nur politisch und moralisch anstößiges Material zu verbreiten. Brav kritisierte denn auch Erwin Huber, Chef der Staatskanzlei des moralisch unpässlichen Edmund Stoiber, das Münchner Urteil gegen Felix Somm, den ehemaligen Chef von CompuServe Deutschland. Huber hofft auf einen Erfolg der Berufung, über die immer noch nicht entschieden ist, doch Bertelsmann denkt weit über diesen lokalen Störfall hinaus. Etliche Forschungsaufträge wurden erteilt, Allensbach befragte Internetnutzer in den USA, Australien und Deutschland. Das Ergebnis wird im November als Buch erscheinen, und schon die Münchner Gipfelkonferenz hat Maßstäbe für die weitere Diskussion zumindest in Deutschland gesetzt.

Ein deutscher Innenminister und die digitale Revolution

Deutlich wie kaum je zuvor ist aber ebenso der Grundkonflikt sichtbar geworden, den auch das noch unter Kohl verabschiedete deutsche Multimediagesetz nicht gelöst hat. Um die inzwischen etwas verwischten Fragen zu klären, die auf dem Spiel stehen, hatte Bertelsmann Ira Magaziner, Bill Clintons ehemaligen Chefberater, gebeten, den Eröffnungsvortrag zu halten. Otto Schily sollte ihm für die deutsche Regierung antworten. Zum Dialog kam es jedoch nicht, das Duett der beiden Hauptredner klang eher so, als wolle die Berliner Polizeikapelle bei Duke Ellington mitspielen.

Ohne Manuskript vortragend begann Magaziner seine Rede mit einem Rückblick auf ein paar tausend Jahre Vorgeschichte. Technische Erfindungen, anders kann sich der libertäre Amerikaner das nicht vorstellen, haben nur deshalb Epoche gemacht, weil sie jeweils die Freiheit des Individuums vergrößerten. Die letzte dieser Revolutionen sei das Internet, das uns nun auch noch von den professionellen und institutionellen Meinungsführern und Informationsvermittlern emanzipiere, die unsere geistige Freiheit bisher beschränkten. Wie jede Revolution habe zwar auch diese ihre Kehrseiten, etwa die Verbreitung illegaler Dokumente, doch niemand möge glauben, sie lasse sich aufhalten. Nicht nur, weil Ira Magaziner und die amerikanische Regierung das nicht zulassen, sondern mehr noch, weil allein das Internet selbst die historischen und sozialen Voraussetzungen definiere, unter denen es sich immer weiter und erfolgreicher verbreite. Weder Staaten noch herkömmliche Kommunikations- und Medienunternehmen sollten deshalb versuchen, in diesen Prozess einzugreifen. „Machen Sie noch so raffinierte Gesetze“, belehrte Magaziner kühl die etwa 300 unter den Insignien der verblichenen Macht bayerischer Könige versammelten Fachleute aus über 20 Ländern, „sie werden ganz einfach nicht funktionieren.“

Danach Otto Schily, der Anthroposoph und Sozialdemokrat. Nichts ist ihm fremder als Magaziners Visionen, und unglücklicherweise entschloss er sich, in Englisch zu antworten. Doppelt behindert holperte er durch sein Manuskript. Auch er schweifte in die Geschichte ab, doch bei ihm begann sie im alten Rom und endete mit der Warnung, dass Computer auch in Zukunft lediglich „berechenbar“, nicht aber „zurechenbar“ seien. Dazwischen Passagen, in denen der Innenminister die Bedeutung des Internets zwar anerkannte, jedoch nur, um zu beleuchten, was deutsche Regierungen schon getan haben und noch tun werden, um der damit verbundenen Gefahren Herr zu werden. Denn niemals dürfe der Staat seine Verantwortung für den Schutz seiner Bürger abgeben, Sonderkommissionen der deutschen Länder und des BKA durchforsteten deshalb das Internet nach illegalem Material – eine Mehrheit der angezeigten Fälle habe übrigens amerikanische Server betroffen. Und einer der wenigen Sätze, die Schily frei sprechend und jedes Wort betonend an Ira Magaziner zu richten wagte, war dieser: „Wir werden die Straftäter weiter verfolgen.“

Mit viel Beifall von Bertelsmann wird Schily nicht rechnen dürfen. Geschickt hatte die Stiftung diesen Auftakt inszeniert, um ihr Memorandum als staatsmännischen Kompromiss anzubieten. Langatmig pries der Würzburger Jurist Ulrich Sieber, unterlegener Verteidiger von Felix Somm und Vordenker für das deutsche Multimediagesetz, die Vorzüge einer Zusammenarbeit von Staat und Privatwirtschaft. Nur war seinen Ausführungen nicht so recht zu entnehmen, worin sie im Einzelnen bestehen soll, und wer das Memorandum so genau liest, wie das ein deutscher Minister tun muss, wird vor allem Abgrenzung erkennen: Nutzer und Wirtschaft allein sollen zusammen Kriterien und Techniken der freiwilligen Selbstkontrolle entwickeln, die Rolle des Staates beschränkt sich darauf, diese Regularien anzuerkennen und Provider wie auch die Organe ihrer Selbstverwaltung von möglichst jeder strafrechtlichen Haftung zu befreien.

Das kleinere Übel freiwillige Selbstkontrolle

Aber auch Ira Magaziner war damit nicht ganz zufrieden. Unter „Selbstkontrolle“, sagte er in seinem Schlusswort, habe er noch etwas anderes verstanden als die Experten der Konferenz, nämlich keine Selbstkontrolle der Medienkonzerne, sondern user empowerment, Selbstbestimmung der Nutzer, die im Internet welthistorisch zum ersten Mal souverän entscheiden könnten, worüber, von wem und wie sie sich informieren wollten. Tags zuvor hatte sich Esther Dyson, Leiterin der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers, Magaziners selbst ernannter oberster Kontrollbehörde für Internetadressen, über die deutsche Angst vor politischen Extremisten gewundert. So etwas sollte man beantworten, nicht unterdrücken, gab sie unübertrefflich prägnant zu bedenken.

Kein Vertreter von Bertelsmann mochte widersprechen. Nicht zuletzt die prominenten Einwände geben dem Kompromiss des Memorandums Gewicht. So hatte die Stiftung auch noch Nadine Strosser geladen, die Vorsitzende der American Civil Liberties Union. Filterprogramme könnte sie vielleicht als ausschließlich privates Hilfsmittel akzeptieren, nur glaubt sie nicht daran, dass es dabei bleibt. Die Versuchung der Industrie, ihre Bewertungsmaßstäbe noch vor dem Staat gegen die User durchzusetzen, sei zu groß, warnte die Juraprofessorin. Bertelsmanns Memorandum, ja selbst Magaziners Idee einer Vielzahl auf einem freien Markt konkurrierender Kontrollinstanzen, ist für sie nur das nur mäßig kleinere Übel einer privaten Zensur.

Die ACLU operiert inzwischen ebenfalls weltweit im Rahmen der „Global Internet Liberty Campaign“ (www.gilc.org). Der Streit um die Webfilter allerdings könnte auch so ausgehen, wie ein Diskussionsteilnehmer in einem der fünf Workshops anmerkte: „Es ist wie in der alten Sowjetunion – wenn die Regierung sagt, dass sie ein Problem hat, sagt die Industrie, dass sie die Lösung hat.“ Dieses Plansoll hat die Konferenz allemal erfüllt. Niklaus Hablützel

niklaus@taz.de