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Vom Unterricht ins Gefängnis

Für amnesty international war er ein politischer Gefangener, für Algeriens Militärs ein gefährlicher Terrorist. Um der Folter zu entkommen, beschuldigte er Mitstreiter und Freunde. Das ehemalige FIS-Führungsmitglied Sid Ali Belhouari erzählt von sieben Jahren Gefängnis und seiner Zukunft  ■    Aus Algier Reiner Wandler

Nach feiern war mir nicht zu Mute“, erinnert sich Sid Ali Belhouari an jenen Mittwoch im August dieses Jahres. Gegen 18 Uhr holten ihn die Wärter. Statt wie erwartet zum Gefängnisarzt, brachten sie ihn zum Ausgang der Haftanstalt in El Harrach, einem Industriestädtchen vor den Toren Algiers. Nach fast sieben Jahren Haft und 26 Tagen Hungerstreik war der 35-jährige Geschichtslehrer endlich frei. „Ich war viel zu fertig, um zu feiern. Und wen hätte ich denn einladen sollen? Viele der Nachbarn hat es doch noch schlimmer erwischt. Deren Kinder wurden hingerichtet oder sind ganz einfach verschwunden“, sagt der algerische Islamist.

Belhouari selbst saß seit 1992 im Gefängnis. Ein politischer Gefangener war er für nationale und internationale Menschenrechtsorganisationen, für die Regierung Algeriens war ein Führungsmitglied der 1992 in die Illegalität gedrängten Islamischen Heilsfront (FIS), ein Terrorist also.

„Wir mussten herhalten, um die vermeintliche Gefährlichkeit unserer Partei zu beweisen“, sagt Belhouari. Mit „wir“ meint er die 54 Angeklagten im sogenannten Flughafenprozess, alles führende Mitglieder der FIS oder der von ihr gegründeten Gewerkschaft SIT. „Jetzt seht ihr, wen ihr gewählt habt“, erinnert sich Belhouari an die Worte des damaligen Regierungschefs Belaid Abdesselam am 26. August 1992 im staatlichen Fernsehen unmittelbar nach dem Bombenanschlag auf das internationale Terminal des Flughafens in Algier, der neun Tote und 123 Verletzte forderte.

Die ersten „Täter“ wurden bereits wenige Tage später verhaftet, unter ihnen der Hauptangeklagte Hocine Abderrahim, Vorsitzender der Gewerkschaft SIT und rechte Hand des FIS-Gründers Abassi Madani. Weitere 27 folgten aufgrund belastender Aussagen. Der Rest der Gesuchten war in Algerien untergetaucht oder ins Ausland geflohen. Unter ihnen Rabah Kebir, der in Deutschland rechtskräftig als Asylbewerber anerkannte Chef der FIS-Auslandsleitung, und die beiden Söhne von Abassi Madani.

„Hätten sie mich gefragt, ob ich für die Erdbeben in Chlef und Nador verantwortlich bin, hätte ich das auch bejaht“, beschrieb der als Drahtzieher des Anschlags beschuldigte Abderrahim während des Prozesses die schwere Folter, unter denen er seine Gesinnungsgenossen beschuldigt hatte.

Belhouari, der am 8. Oktober 1992 mitten aus dem Unterricht heraus verhaftet wurde, erinnert sich heute nicht mehr gerne an seinen Leidensweg. „Die wollten, dass ich die beiden FIS Vorsitzenden Abassi Madani und Ali Benhadj beschuldige, sie hätten mich zum bewaffneten Kampf angestiftet und dafür ausgebildet“, sagt er. „Ich hab gelogen, nur damit sie mir nicht wieder diesen Lumpen mit eklig riechender ätzender Flüssigkeit in den Mund steckten oder mich den Elektroschocks aussetzten.“

Sid Ali Belhouaris Vater wendete sich an amnesty international (ai) in London. Seitenweise wurden die Foltererlebnisse seines Sohnes und der Mitangeklagten veröffentlicht. Es nutzte alles nichts. Das Sondergericht brachte seine Arbeit zu Ende. Zwölf der Angeklagten wurden zum Tode verurteilt. Sieben – unter ihnen der Hauptangeklagte Abderrahim – wurden sofort hingerichtet. Ein anderer von ihnen musste sterben, obwohl er zur Zeit des Anschlags in Polizeigewahrsam war. Sid Ali Belhouari selbst hatte Glück. Der Staatsanwalt forderte zwar auch gegen ihn die Höchststrafe, der Richter beließ es bei sieben Jahren. „Ich habe mir nichts zu Schulden kommen lassen, außer meiner politischen Arbeit in der FIS“, besteht Belhouari auch heute auf seiner Unschuld.

Seit seiner Freilassung lebt der Lehrer wieder im Haus seiner Eltern in Algiers Stadtteil Kouba. In der Moschee des Mittelschichtviertels ist die FIS entstanden. Das Haus der Familie Belhouari, einst im Besitz französischer Kolonialisten, ist geräumig. An den Wänden des Wohnzimmer hängen Tafeln mit Koranversen. Der Fernseher läuft ohne Ton, irgendein Spiel der algerischen Fußball-Liga. Vor dem Fenster schaut die Parabolantenne Richtung Frankreich, der ehemaligen Metropole.

„Mein Sohn würde niemals etwas tun, was Algerien schadet“, wendet der Vater ein. Als Beweis führt der Rentner die Familiengeschichte an. Er selbst war vier Jahre als Mitglied der Nationalen Befreiungsarmee (ALN) in französischer Haft und wurde dort gefoltert. Und sein Vater, Sid Alis Großpapa, wiederum machte gleich siebenmal Bekanntschaft mit den Kerkern der Kolonie. „Einmal wurde er dabei von einem jungen Fallschirmspringer gefoltert, der heute wieder für Schlagzeilen sorgt: Jean-Marie Le Pen“, erzählt der Alte.

Und die Frage nach den Urhebern des Attentats? Vater Belhouari muss nicht lange überlegen. Er spricht aus, was viele Algerier denken und Deserteure aus der algerischen Armee in London und Paris bestätigen: „Da steckt der Geheimdienst dahinter.“ Indizien für seine Anschuldigung will er ebenfalls haben: „Kein Polizist, kein Angestellter des Flughafens, kein Ausländer war unter den Opfern. Nur algerische Zivilbevölkerung. Ein ganz schönes Kunststück in einem internationalen Flughafenterminal.“

Sein Sohn sitzt dabei und nickt zustimmend. Dann erzählt er weiter. „Was ich im Gefängnis erlebt habe, das würde ich meinem ärgsten Feind nicht wünschen“, erinnert sich Sid Ali Belhouari. Überbelegte Zellen, ungenießbares Essen, äußerst mangelhafte Krankenversorgung und das Fehlen jedweder unabhängiger Presse gehörten zum Alltag. Und für die Klagen seines Vaters bei ai musste der junge Islamist bitter bezahlen. „Viermal noch wurde ich in der gleichen Sache vom Sondergerichtshof angeklagt. Die wechselten einfach den Hauptverdächtigen aus, und fertig war ein neuer Fall.“ Die vier Verfahren wurden schließlich alle eingestellt, und trotzdem sollte ihm das letzte besonders zu schaffen machen.

Wie um Belhouari eine kleine „Freude“ zu bereiten, vergaß der Staatsanwalt unter dem Einstellungsbescheid seine Unterschrift. „Für die Gefängnisverwaltung war das Verfahren damit immer noch schwebend“, beschreibt Belhouari die Folgen. Als Präsident Abdelaziz Bouteflika ab dem 5. Juli im ganzen Land 2.000 Islamisten freiließ, war Belhouari deshalb nicht dabei. Und als er sich über den genauen Entlassungstag im Oktober, am Ende seiner Strafe erkundigte, hieß es ebenfalls: „Entlassung? Sie haben doch noch ein Verfahrten anhängen.“ – „Am 31. Juli reichte es mir. Ich trat in Hungerstreik“, erzählt er. Wieder schaltete sich ai ein. Nach 26 Tagen war er dann draußen. Nach einer Darmoperation hat er jetzt die Folgen des Hungerstreiks überwunden.

Zukunftspläne? Die Frage löst bei Sid Ali Belhouari nur ein gequältes Lächeln aus. „Mir wurden für 10 Jahre jedwede Bürgerrechte entzogen.“ Er darf weder wählen noch aktiv Politik betreiben. „Und am schlimmsten für mich: Ich kann nicht im Staatsdienst arbeiten.“ Private Schulen gibt es keine in Algerien. In den nächsten Tagen will Belhouari deshalb auf der Provinzverwaltung vorsprechen und um Gnade und Wiedereinstellung bitten.

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