: Als hätte die Erde sie halb verschlungen
Menschen sehen uns an, aus tiefschwarzen Gründen: Die Galerie Eva Poll erinnert mit einer Ausstellung an den Beginn des Zweiten Weltkriegs. Zu sehen sind vor allem die Arbeiten russischer Künstler aus den 70er- und 80er-Jahren ■ Von Michael Nungesser
Große Ereignisse wollen gefeiert sein: 10 Jahre Mauerfall, 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland, 100 Jahre Kunst in Deutschland. Die Galerie Eva Poll erinnert an ein anderes Datum: 60 Jahre Überfall auf Polen und Beginn des Zweiten Weltkriegs. Ein erstaunliches Unternehmen für eine private Galerie, zumal unter dem Motto „Kriegsfibel der Nachgeborenen“ vor allem russische Künstler im Mittelpunkt stehen. Es sind Gemälde aus den 70er- und 80er-Jahren, die im letzten Jahr ersteigert wurden, Werke aus dem Fundus des 1992 aufgelösten Zentralverbandes der Künstler in Moskau.
Im Zentrum der Bilder steht der Zweite Weltkrieg, in dem die UdSSR den höchsten Blutzoll leisten musste: Rund 20 Millionen Menschen starben. Der älteste unter den drei Künstlern, Wladimir Nikolajewitsch Lebedew, ist noch 1943 als 18-Jähriger eingezogen und dreimal schwer verwundet worden. Sein „Sturm auf den Reichstag“ von 1985 lenkt den Blick über die angreifende Truppe unter roten Fahnen auf das brennende, von Rauchwolken umgebene Gebäude.
Weit weniger dokumentarisch und konventionell behandeln die jüngeren Künstler, Iwan Leonidowitsch Lubennikow und Natalia Leonidowna Paschukowa, beide 1951 geboren, den Krieg. Lubennnikows 24teiliges Poliptychon „Menschen, weg mit den Waffen“, 1985 für den Wettbewerb „Für Frieden und Sozialismus, Junge Künstler der DDR und der UdSSR“ entstanden, ist alles andere als Agitprop, eher ein düsteres Mahnmal für die Opfer. In zwei Reihen, als Brust- und als Ganzkörperbildnisse, schauen uns Menschen aus tiefschwarzen Gründen an, verwundet, ausgezehrt und stumm: Waise, Witwe, Braut, Partisan, Feldwebel, Späherin, Mann und Frau, Alt und Jung. Düsterer, anklagender Realismus in der Tradition von Otto Nagel. Kaum erkennbar liegen in den unteren Bildtafeln, gleichsam den Predellen des Altarbildes, Waffen und Helme, als hätte die Erde sie halb schon verschlungen.
Auch Paschukowa bedient sich sakraler Bildformen. Ihre „Erinnerungen an Frauen des Krieges“, der Mutter gewidmet, zeigt um ein zentrales Tableau mit ausziehenden Soldatinnen in zwölf symbolisch kargen Szenen Familien im Krieg. In dem Triptychon „Das Jahr 1941“ steht die Beweinung eines gefallenen Soldaten im Zentrum, rechts flankiert vom tapfer in den Kampf ziehenden Rotarmisten, links vom grinsenden und plündernden Stahlhelmträger, beide kombiniert mit Menschenmassen, optimistisch dort, verheerend und leidbringend hier. Doch das ist keine billige Propaganda, sondern der vor Perestroika und Glasnost vom Staat geförderte oder geduldete Realismus in poetisch-subjektiver Ausprägung. Paschukowa bekennt in einem Brief offen, dass damals Stagnation im Land geherrscht habe: „Ich wollte keine Lügen über unsere ,glorreiche‘ Gegenwart erzählen, deshalb wandte ich mich der Kriegsperiode zu.“
Neben den russischen Ansichten von Krieg und Zerstörung wirken die anderen Beiträge etwas verloren und zufällig. Der italienische Realist Paolo Baratella paraphrasiert in einem Gemälde von 1975 heartfieldsche antifaschistische Fotomontagen, Ludwig Gabriel Schrieber stellt kurz nach dem Krieg „Europa (Brennendes Dorf)“ in abstrahierend symbolischer Form dar, und Helmut Goettl, der in Karlsruhe beheimatete Realist, bietet in „Bruchlandung“ von 1958 eine grotesk fantastische Persiflage auf die rassistische Lebensborn-Ideologie der Nazis. Kriege finden weiter statt. Ihre todbringende Botschaft will Kunst entlarven.
Galerie Eva Poll, Lützowplatz 7, bis 28. Oktober
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen