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Klartext gegen den Kanzler

Hamburgs SPD-Landesparteitag übt viel Kritik an Gaststar Gerhard Schröder. Bürgermeister Ortwin Runde hat Visionen  ■ Von Sven-Michael Veit

Jörg Kuhbier redete Tacheles. Er habe der Presse entnommen, dass Bundeskanzler Gerhard Schröder jüngst erklärt habe, mit der Hamburger SPD keine Probleme zu haben. „Da überlegt sich man doch“, fragte Kuhbier rhetorisch, „was hast Du falsch gemacht?“.

Heftiger Applaus der 282 Parteitags-Delegierten belohnte Hamburgs SPD-Chef auf dem Landesparteitag im Bürgerhaus Wilhelmsburg mehrfach für seine offenen Worte. Schröder erstarrte sekundenlang das Lächeln. Als erster sozialdemokratischer Bundeskanzler seit Helmut Schmidt-Schnauze 1980 beehrte er einen Hamburger SPD-Parteitag am Samstag mit seiner Anwesenheit (siehe Text unten sowie Seite 5); aber Schmidt hatte an der Elbe stets Heimspiele. Schröder hatte keins.

Die SPD sei seit der Regierungsübernahme im Bund vor einem Jahr „in eine tiefe Krise gestürzt“, analysierte Kuhbier, und habe drei Eindrücke vermittelt: „Sie kann es nicht, sie ist nicht bereit, sie weiß nicht, was sie will.“ An diesem „Wirrwarr“, so Kuhbiers Befund mit Blick auf den direkt neben dem Rednerpult auf dem Podium sitzenden Schröder, sei „der Bundeskanzler nicht allein schuld, aber er trägt die Verantwortung – seit April auch als Parteivorsitzender“. Schröder schluckte trocken.

Natürlich habe die Bundesregierung auch Erfolge aufzuweisen, und die solle gefälligst kein Sozialdemokrat kleinreden, streute Kuhbier ein, um dann unverdrossen weiter Klartext zu reden: Hamburgs SPD erwarte von der Bundesregierung und von der eigenen Parteiführung „die Umsetzung der Koalitionsvereinbarung“, mehr „Professionalität“, eine bessere Öffentlichkeitsarbeit und „Kommunikationsdisziplin“ sowie eine „ordentliche Abstimmung untereinander und mit den Ländern“.

Wenn der „liebe Genosse Gerd“ das hinbekäme, würde er mit Hamburgs SPD „auch in Zukunft keine Probleme bekommen“. Schröder nickte, und Kuhbier nahm die Ovationen der Delegierten entgegen.

Am Abend beschloss der Parteitag mit großer Mehrheit und nur geringfügigen Änderungen einen Leitantrag des Landesvorstands für den SPD-Bundesparteitag im Dezember. Darin gehen Hamburgs Genossen auf Distanz zu Schröders Regierungskurs. Gefordert wird unter anderem die Wiedereinführung der Vermögenssteuer.

Als erster Redner hatte am Vormittag Bürgermeister Ortwin Runde seine Vision eines „klaren Kurses für Hamburgs Zukunft“ abgesteckt. Von strategischer Bedeutung seien der Ostseeraum und vor allem das „Dreieck der Metropolen Hamburg, Berlin, Kopenhagen“. Die strukturelle, ökonomische und verkehrliche Vernetzung dieses Wirtschaftsraums sei das, was ehedem „der Bund der Hansestädte“ gewesen sei. Für Hamburg sei es überlebenswichtig, Teil dieses „neuen Kraftzentrums im Norden Mitteleuropas“ zu sein.

Sprach es, erntete viel Beifall – und flog gestern früh zu einer sechstägigen Reise nach Lettland und Litauen ab, um dort die gleiche Überzeugungsarbeit zu leisten.

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