Typisches Onaniesyndrom

Berlin Scanner: Auf der Suche nach der kleinsten gesellschaftlichen Einheit mit Bertolt Brecht, Heiner Müller und Herrn Nensa. In den Beate-Uhse-Pornokinos „Blue Movie“ in der Joachimstaler Straße war  ■   Kolja Mensing

Im Erdgeschoss der Sex-Shop und die Videokabinen, im ersten Stock das Erotikmuseum und vier Pornokinos: Der Beate-Uhse-Komplex in der Joachimstaler Straße ist groß. Und gleich neben der Kasse zu den „Blue Movie“-Kinos gibt es auch noch ein Bistro. Auf einem der Barhocker sitzt Herr Nensa, der als Verkaufsleiter für Beate Uhse die Pornokinos in Berlin und einigen anderen Städten betreut.

Das Bistro ist leer, Herr Nensa ist allein, und darüber ist er traurig. Herr Nensa findet nämlich, dass ein Pornokino keine schmuddelige Sache ist, sondern Eventkultur. Darum gilt eine Eintrittskarte zum Beispiel den ganzen Tag – „da kann man zwischendurch einkaufen gehen“ – und im Bistro gibt es gratis zwei Bier oder einen Sekt dazu – „weil Sekt ja teurer ist“. Auch das Bistro wird jetzt Event-gemäß umgebaut und bekommt einen neuen Namen: „Crazy Marilyn“ wird es dann heißen, mit einer lebensgroßen Figur der Schauspielerin, erklärt Herr Nensa.

In Berlin gibt es kaum noch Pornokinos. Das legendäre „ABC-Kino“, das früher im Ku'damm-Eck untergebracht war, hat längst zugemacht, das „Kleeblatt“ in der Weddinger Schulstraße ist im letzten Jahr geschlossen worden, und auch die Kinos in der Beußelstraße und Akazienstraße gibt es nicht mehr. Das Pornokino stirbt aus, das ist der erste Eindruck, und die Gründe dafür liegen ja eigentlich auch auf der Hand.

Bis in die späten 70er-Jahre hinein war Pornografie eine ziemlich exklusive Angelegenheit, selbst nach der weitgehenden Legalisierung. Dann kam der Videoboom in den 80er-Jahren: In den meist von einem Vorhang abgetrennten Hinterzimmern der Videotheken konnte man die allerschönsten Sexfilme ausleihen, mit nach Hause nehmen und sich auf seinem Sony oder Grundig in aller Ruhe ansehen. Anfang der 90er-Jahre hatten dann auch die Männer zwischen 40 und 60 – die größte Gruppe unter den Porno-Usern – gelernt, wie man einen Videorekorder bedient. Die Sex-Kinos machten zu, oft wurden die Projektoren auch gegen Videorekorder ausgetauscht und aus einem Saal viele Einzelkabinen gemacht. Für eine Mark pro Minute guckt man sich dort Fickfilme an – ganz allein.

Die Einzelkabine boomt, und das Theater der Sexualität ist damit zur Urform der Tragödie zurückgekehrt: Es gibt nur noch einen Schauspieler auf der Bühne der Lust. Bertolt Brecht war noch davon ausgegangen, dass die kleinste gesellschaftliche Einheit von zwei Menschen gebildet wird. Das wird immer mal gerne zitiert, und Heiner Müller hat sich darauf in den 80er-Jahren in einem Interview bezogen: „Eines meiner Lieblingsbilder ist es, mir Brecht in der Peep-Show vorzustellen.“ Zehn Jahre später müsste man sich Brecht wohl in einer Video-Einzelkabine vorstellen und erkennen, dass man, sexuell gesehen, mit der institutionalisierten Einsamkeit des Onanisten an einem historischen Endpunkt angekommen ist.

Gut, dass es das Beate-Uhse-Pornokino in der Joachimstaler Straße gibt. Denn auch Herr Nensa, der allein in seinem Bistro sitzt, ist gegen die Einsamkeit. Am Dienstag und Sonntag zum Beispiel ist der Eintritt für Frauen umsonst. Und auch wenn das mit Pärchentarif noch nicht so ganz funktioniert: In den vier Pornokinos gleich nebenan ist es rappelvoll, und wer einen der kleinen der Säle betritt, wird erst einmal ausgiebig gemustert. Während man auf den Fluren im Beate-Uhse-Haus den Blick immer schön starr geradeaus oder auf den Teppich-Fußboden gerichtet hält, darf man in den Kinosälen abwechselnd die nackten Körper auf der Leinwand und die angezogenen Besucher anschauen: Allein ist man hier nicht, von Einsamkeit keine Spur.

Das mag natürlich nicht jeder: „Es kommt schon vor, dass ein Besucher nach vorne zur Kasse kommt und sich beschwert, dass sich da jemand neben ihm anfasst“, sagt Herr Nensa, lächelt, und was er meint, ist: „Bitte schön, das hier ist nun mal ein Pornokino“. Damit hat er jetzt auch Heiner Müller auf seiner Seite: „Die Eingrenzung des sexuellen Genusses“, hat der in seinem Interview zum Thema Onanie gesagt, „ist eine der schlimmsten historischen Entwicklungen.“ Bei Beate Uhse wichst an diesem Tag nur einer. Der Mann trägt ein weißes Hemd und eine dunkle Anzugshosen. Die Jacke hat er über seinen Schoß gebreitet, darunter bewegt sich seine Hand. Er sitzt ganz vorne in der ersten Reihe und darum muss er den Kopf ziemlich weit in den Nacken legen, um die Leinwand zu sehen, auf der eine Frau und zwei Männer Sex miteinander haben. Die drei bewegen sich jetzt sehr schnell, sie stöhnen etwas lauter, und dann zoomt die Kamera auf den Penis des Mannes. Man sieht Sperma vom Busen der Frau tropfen. Die Kamera fährt zurück, die beiden Männer und die Frau lächeln, doch darauf achtet im Kinosaal kaum jemand mehr. Die meisten Zuschauer sind schon aufgestanden, gehen den Flur entlang in den nächsten Saal, auf der Suche nach dem nächsten Höhepunkt in den Randbezirken der erotischen Eventkultur. Auch in Bordellen findet man übrigens seit einiger Zeit Leinwände.

Der Mann mit dem weißen Hemd und der dunklen Anzugshose bleibt sitzen, die Jacke über seinen Schoß ausgebreitet. Er wartet in Ruhe auf neue Gesellschaft – und auf den nächsten Film, stellt sich gelassen der koitalen Endlosschleife: „Auch Nietzsches ewige Wiederkehr des Gleichen ist ein typisches Onaniesyndrom“, hatte Heiner Müller damals in dem Interview gesagt: „Der Unterschied zwischen Onanie und einer Fahrt in der U-Bahn ist, dass man in der U-Bahn mehr Leute kennenlernt. Das ist Nietzsches Problem – er kannte zu wenig Leute.“ Nietzsche könnte heute ins „Blue Movie“ gehen.

„Cinema Blue Movie 1 – 4“, Ecke Kantstraße/Joachimstaler Straße