: Der Mensch und sein Platz auf der Welt
Die Großstadt als Ort ästhetischer Bindung schafft bei jungen Immigranten ein kulturelles Selbstverständnis jenseits religiöser und ethnischer Schranken. Wer sich mit Berlin identifiziert, muss sich nicht mit deutschen Werten identifizieren ■ Von Werner Schiffauer
Die aktuelle Diskussion um globale Migration lässt sich mit den Worten des schwedischen Ethnologen Jonathan Friedman zusammenfassen: „Immigranten haben zunehmende Schwierigkeiten und ein abnehmendes Interesse daran, sich mit dem Ort zu identifizieren, an den sie ziehen.“
Diese Feststellung geht davon aus, dass globale wirtschaftliche Veränderungen einen negativen Effekt auf die Assimilierungskraft der Industriestaaten haben. Die abnehmende Bedeutung der klassischen Industrie führt zu geringerer Integration in die Arbeiterschaft. Hinzu kommt die Entwicklung der Kommunikationstechnologie. Der leichte Zugang zu TV-Programmen, die im Herkunftsland der Immigranten produziert werden, und neue Möglichkeiten direkter Kommunikation erleichtern den Kontakt mit den Verwandten in der Heimat. Der Assimilationsprozess verlangsamt sich, mehr oder weniger dauerhafte Diaspora-Gemeinden sind die Folge.
Vor diesem Hintergrund scheinen sich zwei Formen der Identität herauszubilden. Erstens eine „kommunalistische“, d. h. gemeinschaftsbetonte: Durch Neuerfindung von Kultur und Religion versichert sich die Diaspora ihrer selbst. Man mag hier an Fundamentalismen der bekannten Art denken. Dem gegenüber steht eine extrem individualistische Form der Identität. Während die kommunalistische Identität auf positive Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder religiösen Gruppe abhebt, definieren sich die extremen Individualisten in erster Linie negativ: „Ich bin weder ein Türke noch ein Deutscher, ich bin ich.“ Das Feld scheint geteilt zwischen Kommunalisten, die bewusst Grenzen ziehen und transnationale Identitäten betonen, und heimatlosen Kosmopoliten, die überhaupt keine Form von Loyalität wollen. Engagement für die Gesellschaft fehlt beiden.
Dieser Skeptizismus wäre angebracht, wenn die Prämisse richtig wäre. Wenn also das Eingangszitat zutreffen würde. Empirisch gesehen ist dies aber nicht der Fall. Es stimmt zwar, dass Immigranten sich kaum mit der Nation identifizieren, in die sie immigrieren. Das Gegenteil trifft aber zu in Bezug auf den Ort. Meinen Erkenntnissen nach entwickeln Migranten eine starke lokale Identifikation, und die ist ein anthropologisches Prinzip, das weder auf Abstammung noch Religion reduziert werden kann.
Zwei Beispiele aus Interviews: Dimitra, 19 Jahre, griechische Staatsbürgerin, Gymnasiastin, geboren und aufgewachsen in Berlin: „Die Verwandten daheim akzeptieren nichts, was hier in Berlin passiert, und sie machen alles schlecht. Ich kann mit den Leuten nicht reden. Die meisten meiner Verwandten sind konservativ, extrem konservativ. Ich fühle mich in Berlin zu Hause.“ Desgleichen die Rapperin Aziza A.: „Ich bin eine Berlinerin. Nicht weil ich hier geboren bin – sondern weil mein gesamtes Leben hier stattgefunden hat. Meine Freunde, meine Familie, meine Erziehung, meine Karriere, meine Katastrophen und alles andere. Ich kenne die Probleme dieser Stadt, ihre positiven wie negativen Seiten. Deshalb bin ich eine Berlinerin.“
Das Gruppeninterview mit jungen Immigranten, aus dem das erste Beispiel stammt, ist sehr aufschlussreich. Die jungen Leute klagen explizit über ethnische Stereotype. In erster Linie meinen sie damit allerdings ihre Eltern, die schnell alle Aktivitäten ihrer Kinder als „Verdeutschung“ interpretieren. Diese Haltung entspringt der verständlichen Angst von Immigranten der ersten Generation, in ungewohnter Umgebung von ihren Kindern entfremdet zu werden. Jedes Zeichen von Rebellion, jede Zögerlichkeit, die Ansprüche der Eltern zu erfüllen, ist ihnen ein Zeichen von „Verdeutschung“.
Eine ähnliche Reduzierung tatsächlich vorhandener Komplexität findet an deutschen Schulen statt. Die Lehrer sehen beispielsweise in der Weigerung, an einem Schulausflug teilzunehmen, nicht den Versuch, mit einer zwiespältigen Situation zurechtzukommen, sondern erklären sie einfach als „islamischen Konservatismus“.
Beide betroffenen Kulturen haben eine negative Sicht von der jeweils anderen. In Immigrantenfamilien wird Deutschland assoziiert mit zerbrochenen Familien, sexueller Freizügigkeit, Alkohol und Drogen, Nazismus und Gewalt. Für die Deutschen sind die Immigrantenfamilien rückwärtsgewandt, autoritär und frauenfeindlich. Die Jugendlichen sind in diesem Dilemma gefangen. Obwohl sie zwei Sprachen beherrschen, können sie nicht von einem Kontext in den anderen übersetzen. Alles wird falsch verstanden.
Man könnte annehmen, dass die Jugendlichen früher oder später gegen die Kultur der Eltern im Namen der deutschen Kultur rebellieren. Das ist aber selten der Fall. Ursache dafür ist Diskriminierung. Die jungen TürkInnen verlassen die behütete Sphäre der Familie – und erfahren Zurückweisung. Sie werden auf ebendie Gruppe zurückgeworfen, von der sie sich lösen wollten.
Vor diesem Hintergrund müssen Aussagen wie „Ich bin eine Berlinerin“ gelesen werden. Sie beweisen die Möglichkeit, sich jenseits ethnischer oder religiöser Kategorien zu identifizieren. Sich mit Berlin zu identifizieren heißt, sich gerade nicht mit Deutschland zu identifizieren. In dem genannten Gruppeninterview bemerkte ein Teilnehmer: „Man kann sich nicht als Deutscher fühlen ... Typisch deutsch zu sein ist irgendwie nervig. Ich meine, ich weiß nicht einmal, was typisch deutsch bedeutet.“ Sich mit einer Stadt zu identifizieren bedeutet, nicht auf seinen ethnischen Hintergrund reduziert zu werden. Mit Verdeutschung hat das nichts zu tun.
Das ist möglich, weil Großstädte eigene Kulturen entwickeln. Dass sie komplex und heterogen sind, heißt gerade nicht, dass sie formlos sind. Städte haben eine Persönlichkeit, einen Rhythmus, sie erzählen Geschichten (von wichtigen Menschen oder Ereignissen), Mythen (von Helden und Dämonen) und Gleichnisse (von Tugenden und Lastern). Weil Städte Charakter haben, kann man emotionale Bindungen an seine „eigene“ Stadt entwickeln.
Das anthropologische Prinzip, um das es hier geht, ist Lokalität (Nachbarschaft) – ein Prinzip der Gruppenbildung, das im Gegensatz steht zu Abstammung (Ethnizität) und Religion (Ideologie). Im Gegensatz zu Abstammung oder Religion scheint Lokalität ein oberflächliches Prinzip der Integration zu sein, weil es eine starke ästhetische Dimension hat. Lokalität bedeutet Identifikation mit einer „Landschaft“. Die Solidarität, die sie hervorbringt, gründet auf miteinander geteiltem Raum statt auf geteilten Werten oder Vorfahren. Das hat eine starke sinnliche Konnotation. Sich einen Raum zu teilen heißt, Gerüche zu teilen, Geräusche, Geschmäcker, Rhythmen. Das ist oberflächlich – weil es sich eher auf die Oberfläche denn die Essenz bezieht. Aber es ist auch grundlegender und elementarer.
Wir haben eine ästhetische Beziehung zu unserer Umgebung, bevor wir eine begriffliche haben. Wenn wir über unsere Kindheit und Zugehörigkeit nachdenken, stellen wir schnell fest, dass es diese Sorte visueller, olfaktorischer und auditiver Beziehung zu unserer Umgebung ist, die uns grundlegend bindet. Das trifft auf alle Arten von Landschaft zu. Aber in Bezug auf große Städte wird der spezifische Charakter der lokalen Identifikation deutlicher. Kleinstädte sind nicht notwendigerweise homogen, was ethnische oder religiöse Anbindungen betrifft, aber sie sind klarer strukturiert. Man weiß, wohin man gehört. Das ist weit schwieriger in einen großstädtischen Umgebung, wo die Dinge ständig im Fluss sind. Hier kann man echte Zuneigung fassen zur Offenheit, zum unentschiedenen Charakter und zur fragmentierten Natur urbaner Kultur. Dieser Typ ästhetischer Identifikation schafft eine Beziehung zu sozialen Räumen, die nicht auf der Basis von Werten beruht. Es ist eine Identifikation, die die Gestalt einer spezifischen Biografie annimmt, einer Biografie von „Katastrophen und allem anderen“.
Tatsächlich gibt es immer wieder Versuche, die verschiedenen Prinzipien der Gruppenbildung zu vermengen (und damit Zugehörigkeit, Identität und Solidarität zu konstruieren). Nationalistisches Denken zum Beispiel lässt sich beschreiben als der Versuch, das Prinzip der Lokalität mit Abstammung und/oder Ideologie zu verschmelzen. Es ist kein Zufall, dass die klassisch nationalistische Metaphorik sich immer auf bäuerliche Landschaften bezieht.
In anderen Fällen werden diese Prinzipien gegeneinander ausgespielt – ethnische oder religiöse Homogenität wird gepredigt. Wir alle wissen, dass die Lokalität diesen Kampf der Prinzipien manchmal verloren hat. Kosmopolitische Städte wie Sarajevo, Belgrad oder Beirut brachen an ethnischen und/oder religiösen Bruchstellen auseinander. Dasselbe war der Fall im Berlin der Dreißigerjahre. Aber dieselben Städte beweisen, dass Ortsbezogenheit nicht ein Phänomen von zweitrangiger Bedeutung ist gegenüber Abstammung und Religion. Der Geist kosmopolitischen Denkens – die Liebe zu Heterogenität und zu der besonderen Freiheit, die sie bietet – hat eine gewisse Hartnäckigkeit. Sie kann von Zeit zu Zeit unterdrückt werden – aber sie wird sicherlich früher oder später wieder auftauchen.
Meiner Meinung nach birgt diese Art der lokalen Identifikation ein großes Potenzial. Weil ästhetische Identifikation sowohl oberflächlich als auch grundlegend ist, erlaubt sie Integration/Loyalität/Solidarität ohne Konformität. Unter Umständen, bei denen viel in der Übersetzung verloren geht, dient sie als positiver Anker. Sie erlaubt Identifikation, ohne Opposition zu unterdrücken.
All das ist möglich, weil der Kosmopolit nicht der Heimatlose ist, der seine Identifikationen überall sucht außer an dem Ort, wo er lebt (wie es die nationalistische antikosmopolitische – und antisemitische – Propaganda anzudeuten versucht hat). Die Existenz lokaler Identifikation zeigt, dass auch die kommunalistische Position, die Wertintegration als Vorbedingung von Loyalität und Solidarität sieht, nicht stimmig ist. Man kann sich mit einer Stadt identifizieren, kann stolz auf sie sein, ohne die Werte der großen Mehrheit seiner Mitbürger zu teilen.
Die Identifikation mit einer Stadt ist ein Grund, sich für sie zu engagieren und für ihre bessere Zukunft zu kämpfen. Wir sollten von diesem Potenzial Gebrauch machen. Werner Schiffauer ist Professor für Sozial- und Kulturanthropologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Den hier gekürzt wiedergegebenen Vortrag hielt er im Rahmen der Konferenz „Globalization and Cultural Security“ am Haus der Kulturen der Welt in Berlin.
Übersetzung: Martin Hager
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