: Gemeinsam für soziale Rechte
■ Zehntausende demonstrieren in Sarajevo gegen die Regierung. Auch eine serbische Delegation aus Banja Luka marschiert mit
Sarajevo (taz) – Die Eisenbahner recken ihre Fäuste, die Stahlwerker aus Zenica skandieren Protestsprüche, Arbeiter aus Tuzla, Mostar und anderen Gemeinden Bosnien-Herzegowinas demonstrieren gemeinsam. Mehr als 50.000 Menschen sind nach Sarajevo gekommen, um gegen die Untätigkeit der Regierung der bosniakisch-kroatischen Föderation und für ihre sozialen Forderungen zu protestieren. Selbst eine Delegation von serbischen Gewerkschaftern aus Banja Luka ist angereist. Es wären weit mehr Arbeiter gekommen, hätten die Regierung nicht vorher manchem Busunternehmen nahegelegt, die Arbeiter nicht zu transportieren.
Die lange inaktiven Gewerkschaften regen sich wieder. Nach außen hin hat sich die Lage in Bosnien-Herzegowina zwar in den letzten Jahren gebessert. Viele zerstörte Häuser und Dörfer sind wieder aufgebaut, die Wirtschaft beginnt sich zu erholen, in den Geschäften gibt es alles zu kaufen. In Sarajevo nerven sogar die täglichen Verkehrsstaus. Doch das Bild trügt. Die Lage der meisten Bewohner ist keineswegs rosig. „Ich habe seit dem April keinen Lohn mehr erhalten, nur Abschlagszahlungen von 200 Mark“, sagte ein Angestellter des Energiekonzerns „Energoinvest“, der vor dem Krieg 60.000 Menschen beschäftigte. Und die Kollegen Suhasic Ramiz und Ilja Mihulic, die aus dem nordbosnischen Odzak stammen, beklagten, dass es seit Kriegsende in ihrer Region keine Investionen gegeben habe. „Bei uns gibt es 99 Prozent Arbeitslosigkeit. Hätten wir uns dies leisten können, wären aus unserer Region tausende von Menschen hierher gekommen.“
Milan Jovicic, ehemaliger Ingenieur und einer der ersten Angestellten des Aluminiumwerks in Mostar (West) kritisiert die „ethnische Wirtschaft“. „Ich war als Serbe den ganzen Krieg über in Mostar und darf nicht mehr an meinen Arbeitsplatz zurück, weil ich Serbe bin.“ Das Aluminiumwerk sei fest in kroatischer Hand und nur Kroaten würden angestellt. Alle Versuche der internationalen Gemeinschaft, die kroatischen Politiker davon abzubringen, seien gescheitert. „Wir fordern Schluss zu machen mit dem Nationalismus und dieser ethnischen Wirtschaft,“ sagte auch Emir Hasanhadzic. Er will in seine Heimat Banja Luka zurückkehren, die serbischen Behörden dort verhinderten sogar die Suche nach Arbeit.
Die Zeiten des Krieges seien vorbei. „Wir wollen normal leben wie in anderen Ländern auch“, fordert Suleyman Hrle, der Vorsitzende der Gewerkschaften in Bosnien-Herzegowina. Neben den genannten Problemen sei das der Korruption zu nennen. Die soziale Lage der Arbeiter in Bosnien sei katastrophal, Arbeitslosigkeit, geringe oder gar nicht ausgezahlte Löhne hätten die Beschäftigten unter das Existenzminimum gedrückt. „Wir fordern höhere Löhne und einen Staat, der sich auch um die sozialen Belange kümmert. Viele Rentner haben seit Monaten kein Geld mehr bekommen.“
Wollen die Gewerkschaften den Sozialismus wieder? Die Gewerkschaften hätten nichts gegen eine Privatisierung, jedoch müssten alle Schritte von den Arbeitern diskutiert werden, sagt Hrle. Obskure Leute sollten sich nicht die Fabriken unter den Nagel reißen können. „Wir wollen aufbauen und nicht zerstören“, unterbricht ihn die Menge und beklatscht die serbische Delegation aus Banja Luka.
„Wir werden auch in Banja Luka ähnliche Demonstrationen organisieren, wenn uns die Regierung nicht entgegenkommt“, erklärt Mirko Ponjarac, führender Gewerkschafter aus der Serbischen Republik in Bosnien. Die Gewerkschaften würden in beiden Teilen Bosnien-Herzegowinas in Zukunft stärker zusammenarbeiten. „Diese Demonstration bedeutet einen Schritt weg vom Nationalismus hin zu einer sozialen Bewegung“, freute sich der Beobachter des europäischen Gewerkschaftsbundes, Peter Seideneck.
Die Regierung der Föderation unter Premierminister Edhem Bicakcic habe versucht, mit Repression auf die Gewerkschaften einzuwirken. „Wenn diese Demonstration nicht durch Provokationen gestört wird, wird die Gewerkschaftsbewegung aufleben“, erklärt der Experte. Diese Bewegung protestiere nicht nur gegen die Regierung, sie sei unabhängig, sie werde sich nicht vor den Karren anderer politischer Parteien spannen lassen. Erich Rathfelder
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