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Sonne im Westen, Wolken im Osten

Wirtschaftsforscher prognostizieren in ihrem Herbstgutachten Wirtschaftsaufschwung für das Jahr 2000 und fordern von der Bundesregierung eine finanzpolitische Offensive mit einer großen Steuerreform  ■   Von Beate Willms

Sparpaket und Staatsverschuldung: „Aus einem Defizit kann man sich nicht heraussparen. Man muss wachsen.“

Berlin (taz) – Gute Aussichten – zumindest für manche: Ein Ende der so genannten Konjunkturdelle ist in Sicht, lautet die einmütige Auffassung der Experten der sechs führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute, die gestern in Berlin ihr Herbstgutachten zur „Lage der Weltwirtschaft und der deutschen Wirtschaft“ vorstellten.

Zu verdanken sei das Wiederanziehen der Konjunktur vor allem den verbesserten weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen, dem zeitweise gegenüber dem US-Dollar recht schwachen Euro, aber auch den Zinssenkungen der Europäischen Zentralbank. Jetzt sei es auch Sache der Bundesregierung, die Entwicklung in Gang zu halten oder besser noch zu forcieren – und nicht durch falsches Sparen und eine halbherzige Steuerreform wieder zu bremsen. Denn selbst mit der günstigen Prognose des Herbstgutachtens liegt das Wirtschaftswachstum in Deutschland gut einen Prozentpunkt unter dem Durchschnitt der Industrieländer.

Die konkreten Zahlen: Im kommenden Jahr legt die Wertschöpfung um 2,7 Prozent zu, das ist fast doppelt so viel wie die 1,4 Prozent, die in diesem Jahr noch erreicht werden könnten. Parallel dazu sinkt die Arbeitslosigkeit von 10,2 auf 9,7 Prozent.

Der positive Trend gilt allerdings nur für Westdeutschland. Für den Osten prognostizieren die Institute weiterhin einen „stockenden Aufholprozess“. Die Arbeitslosigkeit dort ist in diesem Jahr mit rund 17,1 Prozent erstmals mehr als doppelt so hoch wie im Westen und wird auch 2000 kaum abnehmen – die Zahl der Erwerbslosen soll sogar um rund 35.000 steigen.

Als eine der Ursachen gilt, dass der Export weiterhin der bestimmende Faktor für die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland ist. Vor allem aus den bisherigen Krisenländern in Südostasien und Lateinamerika, aber auch aus den USA kommen wieder mehr Aufträge. Weite Teile der ostdeutschen Wirtschaft sind aber auf die Binnennachfrage angewiesen, die erst noch nachziehen muss. Die mittel- und osteuropäischen Länder, die wichtige Absatzmärkte bilden, hinken der weltwirtschaftlichen Entwicklung ebenfalls hinterher. Hinzu komme, so Elke Schäfer-Jäckel vom Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsinstitut in Essen, dass das Produktivitätsniveau weiter zu wünschen übrig lasse. Hier müsse die Förderpolitik fortgesetzt werden, das Geld aber zielgenauer vergeben werden. Investiert werden solle vor allem in die Infrastruktur. Und: „Nur wenn Lohnzurückhaltung geübt wird, können von Produktivitätssteigerungen Impulse ausgehen.“

Für Gesamtdeutschland sehen die Wirtschaftsforscher das ähnlich. Der größte Stellenwert komme jedoch der Finanzpolitik zu. Sie müsse nun in die Offensive gehen, forderte Will Leibfritz vom konservativen Münchner ifo-Institut. Bei Wachstumsraten ab 3 Prozent sei mit jährlich 1 bis 2 Prozent mehr Arbeitsplätzen zu rechnen. „Das muss das Ziel sein.“ Das Sparpaket, mit dem Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) die Verschuldung herunterfahren will, würde aber Konjunkturausgaben von 16 bis 17 Milliarden Mark verhindern, rund 0,4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Zumindest müsse man die Gewinne wieder investieren, statt sie komplett für den Abbau des Defizits zu verwenden – beispielsweise, um Steuern und Abgaben zu senken.

Aufbau Ost: Die Arbeitslosigkeit im Osten ist mit rund 17 Prozent auch 2000 mehr als doppelt so hoch wie im Westen

„Aus einem Defizit kann man sich nicht heraussparen“, so Gustav-Adolf Horn vom SPD-nahen Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin. „Man muss wachsen.“ Das Staatsdefizit werde ohnehin „zu sehr dramatisiert“.

Die Empfehlung der Gutachter: Die Unternehmenssteuerreform müsse neu durchdacht und mit einer Reform der Einkommenssteuer kombiniert werden.

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