: Nordnigerianern droht die Scharia
■ Der Gouverneur eines Bundesstaaten holt zum Schlag gegen die Einheit des multireligiösen und multiethnischen Landes aus
Berlin (taz) – Dieben werden die Hände abgehackt, Ehebrecher werden zu Tode gesteinigt, Schulen und öffentliche Verkehrsmittel werden nach Männern und Frauen getrennt, Prostitution und Alkohol werden verboten und staatliche Aufträge gehen nur noch an Bartträger. So stellt sich Alhaji Ahmed Sani Yarima, gewählter Gouverneur des Bundesstaates Zamfara im Norden Nigerias, laut eigenen Aussagen die Zukunft vor. Gestern führte er feierlich in seiner überwiegend von muslimischen Bauern besiedelten Savannenprovinz die Scharia ein, das islamische Recht. Dies ist nach Auffassung breiter politischer Kreise in Nigeria ein gezielter Schlag gegen die Einheit des multireligiösen und multiethnischen Landes.
Zamfaras Gouverneur verkündete seinen Entschluss erstmals Mitte Juli – gerade sechs Wochen nach Amtsantritt des Südnigerianers Olusegun Obasanjo als gewählter Staatschef. Es war der Zeitpunkt, als das nördliche Establishment, das während der vorherigen 16 Jahren Militärdiktatur viel Macht innehatte, lautstark über „Marginalisierung“ seitens der neuen Zivilregierung zu klagen begann, weil Obasanjo dutzendweise hohe Militärs zwangspensioniert hatte.
Mitte September ließ Gouverneur Sani Yarima sich in seiner Provinzhauptstadt Gusau zum Kalifen erklären. Seine Provinzlegislative verabschiedete die Scharia-Einführung am 7. Oktober. Formell gilt das islamische Recht erst ab Anfang 2000, wenn die entsprechenden Gerichte funktionsfähig sein sollen. In der Praxis fallen die kriminellen Handlungen, die Sani Yarima aufgelistet hat, schon jetzt unter die Scharia. Eine Handamputation soll es bereits gegeben haben. Eine 5.000-köpfige Freiwilligenorganisation mit Polizeifunktion ist damit betraut, das neue Recht durchzusetzen.
Saudi-Arabien ist begeistert und hat massive Finanzhilfe in Aussicht gestellt. Nigerias Christen aber sind empört. Der christliche Dachverband CAN warnt vor „politischem, sozialem und wirtschaftlichem Chaos“ wie im Libanon und Sudan und appellierte an Präsident Obasanjo, Zamfaras Entscheidung zu widerrufen.
Obasanjo kam zwar seiner Einladung nach Gusau zur gestrigen Scharia-Feier nicht nach, aber er hat die Rechtsänderung auch nicht verurteilt, obwohl die vollständige Einführung der Scharia in Nigeria verfassungswidrig ist. Scharia-Gerichte sind auf Provinzebene erlaubt – aber sie dürfen nur auf Antrag beider Parteien in einem Rechtsstreit tätig werden und nur zivilrechtliche Fragen behandeln.
Zamfaras Gouverneur weiß sehr wohl, was er mit der Ausweitung der Scharia auf alle Bereiche des Rechts anrichtet. Sein Schritt ist eine Warnung an die Regierung, die Eliten des Nordens nicht noch weiter zu verprellen. Die Einführung der Scharia gehört seit Jahrzehnten zum klassischen Drohpotential von Nigerias Generälen und islamischen Würdenträgern, wenn sie die Entwicklung des Landes missbilligen.
Mehrere andere nordnigerianische Bundesstaaten haben bereits angekündigt, dem Beispiel Zamfara zu folgen. Gouverneur Sani Yarima weist zwar darauf hin, dass die klassischen Gerichte neben den Scharia-Gerichten weiterbestehen – ein Rezept für juristisches Chaos. Außerdem stünde weder in der Verfassung noch in der Bibel geschrieben, dass sich Christen betrinken sollten. Allerdings sind Zamfaras Nichtmuslime laut Zeitungsberichten in den vergangenen Wochen zu tausenden ausgewandert.
Ein Reporter der Wochenzeitung Tempo fand in der Hauptstadt Gusau verlorene südnigerianische Händler vor, die sich fragten, wie sie denn Gäste bewirten sollen, wenn es keinen Palmwein mehr gibt. Laut dem Bericht ist der liberalste Ort für Trinker in Gusau heute die Armeekaserne. Denn auch in der neuen Demokratie hat keine zivile Instanz Nigerias die Macht, dem Militär etwas zu verbieten. Dominic Johnson
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