: Rust never sleeps
Ohne Frühstück irgendwo da draußen in den Kartoffelfeldern vor Moskau: Vor zehn Jahren ließ eine Chessna 172 die sowjetische Flugabwehr alt aussehen ■ Von Wladimir Kaminer
Im Sommer 1999 versammelten sich hunderte junger Menschen auf der großen Brücke vor dem Roten Platz, wo zwölf Jahre zuvor Mathias Rust seine Chessna 172 zur Landung gebracht hatte – und warfen unzählige Papierflieger runter. Es war ein romantisches Bild: Die Papierflieger bedeckten eine Weile den Fluss und verschwanden dann langsam in der Tiefe der Moskausees.
So ähnlich verschwand auch Mathias Rust. Ich werde ihn kaum vergessen, denn ich war zu diesem Zeitpunkt Soldat bei der Flugabwehrzentrale, hundert Kilometer von Moskau entfernt, und bei uns war seinetwegen mächtig was los. Unsere bescheidene Einheit bestand aus einem Radar mit einer Reichweite von 400 Kilometern, drei Raketen, 20 Soldaten und vier Offizieren, die sich alle 12 Stunden im Dienst abwechselten. Der eine war Säufer, der andere schwul, der dritte ein Komiker und der vierte ein Karrierist.
Normalerweise verlief unsere Wache ziemlich ruhig. Der Säufer brachte immer ein paar Flaschen zu trinken mit, und der Schwule trug lustigen Perücken. (Alle Offiziere waren nämlich glatzköpfig, wegen der Radarstrahlung.) Der Komiker erzählte uns abgegriffene Armeewitze, und der Karrierist starrte unentwegt auf den Radarschirm. Bis eines Tages diese Chessna auftauchte und uns zu Narren machte. Eine ganze Woche lang machte Mathias mit uns, was er wollte. Mal verschwand er vom Radarschirm, dann tauchte er wieder auf, aber wir wussten nicht, ob es dasselbe Flugzeug war oder nur ein betrunkener Kolchosvorsitzender, der zu seiner Tante rüberflog.
Mathias Rust wurde zu unserem Verhängnis. Er landete mehrmals. Wir saßen vor dem Radarschirm, ohne Frühstück, ohne Zigaretten, und irgendwo da draußen in den unendlichen Kartoffelfeldern Russlands saß Mathias Rust und bediente sich mit russischem Benzin. Wir schoben pausenlos Wache, Rust kreiste um uns herum, und der Komiker sagte: „Das ist ein fliegender Schnapsladen, der umkreist genau die Gebiete, wo sie Versorgungsprobleme mit Schnaps haben“.
Der Schwule hatte Dienst, als Rust nur noch 100 Kilometer von unserem Posten entfernt war. Er wurde immer nervöser, konnte die ganze Nacht nicht ruhig sitzen und schwitzte dabei wie eine Sau. Der Karrierist dagegen bewahrte Ruhe. In der Nacht, als er Dienst hatte, flog Rust direkt über uns. Man brauchte kein Radar mehr, um es zu sehen. Der Karrierist schlug die Dienstvorschriften auf, dort stand: Bei jeder Panne zuerst den Vorgesetzten informieren. Der Karrierist griff zum Telefon und meldete den Vorfall im Divisionsstab. Der Dienst habende Stabsoffizier rief den Korpuskommandanten an, der wiederum seinen Vorgesetzen benachrichtigte – so lief es immer weiter: bis Rust vor dem Roten Platz landete. Daraufhin sagte der damalige Marschall der Flugabwehrkräfte, Archipow: „Ich führe eine Armee, die aus unfähigen karrieresüchtigen Idioten besteht, die sich jeder Verantwortung entziehen“ – und erschoss sich.
Es kam zu einer Kettenreaktion, zu einer Serie von Selbstmorden – bis runter zum Stabsoffizier.
Nach diesem Vorfall verloren viele Offiziere ihren militärischen Schneid und wurden nachdenklich. Auch bei der Zivilbevölkerung sorgte die 1.000-Kilo-Friedenstaube für eine gewisse Auflockerung der Verhältnisse. „Ihr seid kein Imperium des Bösen, sondern nur ein Teil der Welt, wo man auch mal notlanden kann“, lautete für viele Russen die Botschaft, die Rust mitgebracht hatte. Natürlich gab es auch Menschen, die sein Handeln als eine Art blöde Anmache begriffen. Der sowjetische Oberstaatsanwalt forderte damals für Rust als Minimum 10 Jahre Gefängnis und war sehr sauer. Mathias kam jedoch ziemlich schnell frei, nach anderthalb Jahren war er wieder in Deutschland.
Zwei Jahre später stand Rust aber erneut vor Gericht: wegen versuchten Mordes. Die Schwesternschülerin Stefanie Walura wollte den Zivildienstleistenden Mathias nicht küssen. Sie sagte ihm, dass sie seine Geschichten über die Landung auf dem Rotem Platz nicht beeindruckend finde und dass er bei ihr niemals so leicht landen könnte. Obendrein bezeichnete sie ihn als geilen Bock. Unsere Friedenstaube stach daraufhin mit dem Messer auf sie ein.
Dafür bekam Mathias Rust noch einmal eine zweieinhalbjährige Strafe aufgebrummt. Eines Tages wurde er jedoch versehentlich und vorfristig aus dem Gefängnis entlassen. Danach verwischten sich seine Spuren. Ein Bekannter von mir, ein einst von einem russischen Schiff geflüchteter Seemann, der sich zufällig in der Rust-Stadt Wedel niederließ, erzählte mir, dass Mathias, der im sowjetischen Knast gut Russisch gelernt habe, in einem Hamburger Puff an der Reeperbahn sein Glück gefunden habe: Er verliebte sich in Natascha, nahm sogar einen Kredit auf, um sie von einigen Jugoslawen freizukaufen.
Im letzten Sommer haben die beiden geheiratet. Nun erwarten sie einen kleinen Rust, der die Weltgeschichte weiterschreiben wird. Denn die Weltgeschichte wird von Kleinflugzeugen gemacht.
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