piwik no script img

Selbstporträt mit Kondom

Um die Vergabe des renommierten britischen Turner-Preises gibt es wütende Debatten. Für Aufsehen sorgt das verdreckte Bett der Künstlerin Tracey Emin  ■   Von Holm Friebe

Same procedure as last year? Same procedure as every year. Seitdem der Turner-Preis 1984 erstmalig von der Londoner Tate Gallery ausgelobt wurde, um, wie es in der Ankündigung heißt, „neue Entwicklungen in der bildenden Kunst aufzuzeigen“, wiederholt sich auf der Insel jährlich dasselbe Ritual. Sobald im Herbst die Nominierungen für den mit 20.000 Pfund dotierten Preis feststehen, streiten berufene und selbst ernannte Kritiker auf allen Kanälen nicht nur über Werk und Wirken der annoncierten Künstler, sondern auch ganz grundsätzlich darüber, was und ob das noch Kunst ist. Dieses Jahr schlagen die Wellen besonders hoch.

Der Grund ist Tracey Emin. Wenn der inflationär gebrauchte Begriff des Enfant terrible im Zusammenhang mit den reichlich skandalumwitterten Young British Artists überhaupt noch Sinn machen soll, dann gemünzt auf die 36-jährige Künstlerin. Ihr Ansatz lässt sich als radikaler Exhibitionismus beschreiben. In diversen Medien, am markantesten jedoch in textilen Patchworks, stellt sie das eigene Leben zur Schau – lasterhaft und verkorkst, eins zu eins, wie die Arbeiten es suggerieren. Eines der provokantesten Stücke der zuletzt in New York für Schlagzeilen sorgenden „Sensation“-Ausstellung, die Bürgermeister Giuliani wegen angeblicher Blasphemie schließen lassen wollte (siehe taz vom 27. 9.), ist ihre Installation „Everyerone I ever slept with 1963 – 1995“. Emin hat dafür ein Iglu-Zelt aufgebaut, dessen Innenwände mit über hundert Namen bestickt sind (wobei sie hier „schlafen“ ausnahmsweise wörtlich gemeint hatte. Die namentlich Erwähnten waren dennoch nicht amüsiert).

Einem Publikum jenseits des engen Kunstzirkels wurde sie bekannt, als sie in einer Fernsehdiskussion auf BBC zum Turner-Preis vor zwei Jahren erst die anderen Teilnehmer beschimpfte und dann verkündete: „Ich bin die einzige Künstlerin hier, ich bin völlig betrunken und gehe jetzt nach Hause.“ Seitdem beklagt sich Tracey Emin öffentlich, wie zuletzt im Interview mit dem Magazin Face, sie hätte „Art stardom“, jene seltene und scheinbar unheilbare Krankheit, die im Extremfall zur Unsterblichkeit führen kann. Angesteckt hat sie sich vermutlich bei Damien Hirst, der als erster aus der Riege junger britischer Künstler den Aufstieg zur Pop-Ikone demonstriert hat.

Eigentlich galt es als ausgemacht, dass Emin den diesjährigen Preis bekommen würde. Und sei es nur, „damit sie endlich Ruhe gibt“, wie Neider meinten. Als in der vergangenen Woche jedoch die Tate-Ausstellung eröffnet wurde, war sich auf einmal eine breite Phalanx, darunter auch die bis dahin Emin eher wohl gesinnten Kritiker, einig, jetzt sei sie übers Ziel hinaus geschossen. Adrian Searle vom Guardian sah sich gar zu einer persönlichen Standpauke genötigt: „Tracey, du machst einfach immer weiter mit deiner unendlich solipsistischen und selbstreferentiellen Hommage an dich selbst.“

Dabei hatte Tracey nur gemacht, was sie sonst auch macht: ihr Leben als Readymade benutzt und ausgestellt. Ihre Installation „My bed“ ist genau das: ihr Bett, eine Matratze mit Oberbett, zerwühlt und versifft nach einwöchiger Krankheit. Drum herum stehen und liegen Gegenstände, leere Wodkaflaschen und benutzte Kondome, leere Zigaretten und Pillenschachteln, vollgeblutete Unterhosen – Einblicke ins Private eben. Geschmackssache und gewöhnungsbedürftig, sagen die Verteidiger; geschmacklos und Intimitätsterror, sagen die anderen und sind mit einem Mal in der Überzahl. „Fucked up“, würde vermutlich die Künstlerin selbst sagen, um einmal mehr ihre Lieblingsvokabel anzubringen, und dann auf eines der Videos verweisen, die im zweiten Raum laufen. In einem fingierten Selbstinterview wirft darin die züchtig gekleidete Interviewmaus Tracey Emin der derangierten Künstlerin Tracey Emin vor, sie sei eine alkoholabhängige, psychopathische, egomanische Schlampe, was diese – nicht ganz ungeschickt – kontert mit: „Aber ich bin geschlagen und sexuell missbraucht worden.“

Nützen wird ihr die Selbstaussage wenig, wenn neuerdings sogar Kollegen jeder Respekt vor ihrem Werk und ihrer exponierten Intimsphäre abgeht. Am vergangenen Sonntag veranstalteten zwei asiatische Aktionskünstler namens Jian Jun Xi und Yuan Cai, die bereits die Biennale in Venedig aufgemischt hatten, auf dem Bett eine Kissenschlacht, um, wie sie es nannten, gegen die Institutionalisierung der Kunst zu protestieren. Danach musste die Ausstellung für fünf Stunden geschlossen werden, bis alles wieder schön unordentlich drapiert war.

Etwas im Schatten der Kontroverse stehen die anderen Anwärter auf den Turner-Preis: Steve McQueen, Steven Pippin und die Zwillingsschwestern Jane und Louise Wilson. Obwohl Malerei diesmal überhaupt nicht vertreten ist, bewegen sie sich alle innerhalb der Traditionslinien moderner Kunst: Im Vordergrund steht die Auseinandersetzung mit Wahrnehmung, Räumen und Bewegungen. Steven Pippin hat Waschmaschinen per Lochblende zu Fotoapparaten umfunktioniert. Vor- und Hauptwäsche eignen sich verblüffend gut zur Entwicklung und Fixierung der Negative, Trockenschleudern inklusive. Abgesehen von der dem Vorgang innewohnenden Komik, mit einem Pferd die Batterie aus Lavamaten in einem Waschsalon abzureiten, sind die so entstandenen Fotoserien eine Reverenz an die Pioniere des Genres, etwa die frühen Bewegungsstudien von Eadweard J. Muybridge. „Laundromat-Locomotion“ ist der Versuch, der Inflationierung des Mediums Fotografie entgegenzutreten, indem man sich zu den umständlichen Anfängen zurücktastet.

Die stärkste Arbeit von Steve McQueen ist nach wie vor die Video-Installation „Deadpan“ von 1997. Wie Buster Keaton in „Steamboat Bill Jr.“ sieht man McQueen vor einer massiven Holzwand stehen, die langsam nach vorne kippt. Während die Wand herunterkracht, bleibt McQueen regungslos in der einzigen Fensteröffnung stehen. Erst als der Zug aus verdrängter Luft nachlässt, blinzelt er einmal kurz. Ohne Ton, in Schwarzweiß und aus verschiedenen Blickwinkeln wiederholt sich die Szene, bis einem die erforderliche Selbstdisziplin in vollem Umfang bewusst wird. Dagegen nehmen sich die neueren Arbeiten „Current“ und „Prey“, in denen ein versunkenes Fahrrad langsam von der Strömung eines Flusses bewegt und ein Tonband mit Steptanz-Aufnahmen von einem Heißluftballon in die Luft entführt wird, fast ein wenig belanglos aus.

Die Wilson-Zwillinge, von denen bis zu diesem Wochenende noch eine große Einzelausstellung in der Londoner Serpentine Gallery zu sehen ist, folgen ihrem Konzept, Architektur und Interieur ungewöhnlicher oder schwer zugänglicher Orte in Fotografien und schwindelerregenden 360-Grad-Video-Projektionen sichtbar zu machen. „Las Vegas, Graveyard Time“ besteht aus Aufnahmen fast menschenleerer Casinos in Las Vegas. Nur zwischen vier und fünf Uhr morgens – zur „Graveyard Time“ also – lässt sich dieses unwirkliche Szenario einfangen. Doch schon die schiere Präsenz der Architektur macht deutlich, wie viel Geld hier bei Tage fließt. Mit diesen Szenarien korrespondieren Blow-up-Fotografien vom „Hoover Dam“, dem unterirdischen Abwassersystem von Las Vegas. Auch wenn man das Thema im Vergleich zu früheren, sehr zurückgenommenen Wilson-Arbeiten ein wenig zu catchy finden kann, sind die symbiotischen Zwillinge die Lieblinge des intellektuellen Publikums; viele sähen sie gern als Preisträgerinnen.

Aber ganz gleich, wer nun am 30. November als Turner-Preis-Träger 1999 bekannt gegeben wird, die ganze Veranstaltung hat bereits jetzt wieder einmal ihren Zweck erfüllt: Eine ganze Nation diskutiert über Kunst. Zugegeben, hauptsächlich über das Privatleben einer Künstlerin, aber auch und immerhin über Kunst. Allein für diese Tatsache hätte Tracey Emin eigentlich doch den Preis verdient.

Bis 6. Februar 2000, Tate Gallery; eine kleine Broschüre mit Arbeiten der vier beteiligten Künstler und Künstlerinnen kostet 1, 50 Pfund.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen