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Geheimes Wirtschaftswunder im Mezzogiorno

■ Kein Geld, keine Investitionen, schlechte Straßen, miese Prognosen – aber das angebliche Armenhaus Italiens blüht und gedeiht mit Phantasie und Schwarzarbeit

Offiziell sind hier über 20 Prozent der Menschen arbeitslos“, der Bürgermeister von Grumo Nevano, einem 20.000-Seelen-Städtchen im Hinterland von Neapel, zeigt auf Straßen und Piazze, „aber wenn Sie durch den Ort gehen, werden Sie kaum einen einzigen wirklich Arbeitslosen finden.“ Er hebt die Schultern: „Die Erklärung ist einfach: Auf jeden regulär Beschäftigten kommen hier drei bis vier Schwarzarbeiter.“

Seit Jahren regiert er eine kleine Boomtown, die den offiziellen Daten nach eigentlich in tiefster Depression verharrt. Zu Hunderten sind hier Klein- und Kleinstbetriebe aus dem Boden geschossen – Betriebe, auf die keine leuchtende Neon-Reklame hinweist, die sich förmlich verschanzen hinter anonymen Hoftoren. Es sind Betriebe, in denen ein paar Arbeiter Schuhe und Bekleidungsartikel aller Art fertigen, von Ramschwaren für den Straßenhandel bis zu Luxusartikeln für Designerboutiquen.

Mit dieser Entwicklung steht Grumo Nevano keineswegs allein. Dutzende Orte im Mezzogiorno erleben unter Ausschluss der Öffentlichkeit einen ähnlichen Aufschwung. Dabei waren die Prognosen noch vor wenigen Jahren tiefschwarz.

Anfang der 90er-Jahre stieß die Schuldenwirtschaft des italienischen Staates an ihre Grenzen. Deswegen strich man die Mitteltransfers in den Süden zusammen, schloss Staatsbetriebe oder betrieb Stellenabbau. Fast alle Beobachter erwarteten daraufhin das Schlimmste, malten wirtschaftlichen Niedergang, soziale Spannungen, selbst politische Revolten an die Wand.

Tatsächlich büßte der Süden nach offiziellen Angaben 1999 60.000 Stellen gegenüber dem Vorjahr ein, die Investitionsrate liegt weiterhin unter dem Landesdurchschnitt, die multinationalen Unternehmen halten sich zurück. „Dieser notleidende Süden ist durchaus Realität“, kommentiert Fabrizio Barca, Leiter der Abteilung Südentwicklung im Schatzministerium, „jedenfalls in weiten Teilen Kalabriens, auf Sizilien oder Sardinien.“ Trotzdem aber „sollte man sich durch die Arbeitszahlen nicht täuschen lassen: Es gibt mittlerweile zahlreiche Gegenden von hoher wirtschaftlicher Vitalität.“

So gar nicht zum Bild vom siechen Süden passen zum Beispiel die Exportzahlen. Während der ehemals führende Norden massive Einbrüche verzeichnet, melden mit der Basilicata, Lampanien und Kalabrien drei Südregionen deutliche Zuwächse. Letztes Jahr gelang es dem Mezzogiornio erstmals, mehr als zehn Prozent Anteil an den italienischen Gesamtexporten zu erreichen. Ob Mode oder Möbel, „Made in Italy“ entsteht nicht mehr nur im Veneto oder der Emilia Romagna. In San Giuseppe Vesuviano etwa fertigen mittlerweile zehntausende Beschäftigte Damenbekleidung, in Matera, weitab von den großen Handelslinien, haben sich aus kleinen Hinterhofklitschen Großbetriebe für Polstermöbel entwickelt. Natuzzi, die erfolgreichste Firma unter ihnen, ist mit „Divani & Divani“ mittlerweile einer der Marktführer in den USA.

Das Erstaunliche: Die vielen kleinen Wirtschaftswunder im Süden entwickelten sich just in der Zeit des Subventionsabbaus, und sie entwickelten sich trotz oft genug miserabler Infrastrukturen – zu den Möbelwerken in Matera etwa führt über Kilometer eine holprige Schotterstraße. „Das ist vielleicht die wichtigste Ressource des Südens“, meint Luca Meldolesi, Wirtschaftswissenschaftler aus Neapel, „wir haben hier mittlerweile Unternehmer, die auch mit den schwierigsten Situationen fertigwerden – selbst wenn sie es mit unfähigen öffentlichen Verwaltungen zu tun haben.“ Gut fünfzig Jahre lang hatte es nur niemand gegeben, der diese Ressourcen nutzte. Jetzt, so scheint es, ist es endlich so weit.

Michael Braun

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