: Permanente Strahlenbelastung
taz-Serie „Jeden Tag ein guter Grund für den Atomausstieg“: Auch ohne Unfall wurden Arbeiter in der Hanauer Atomfabrik Nukem verstrahlt ■ Von Klaus-Peter Klingelschmitt
Frankfurt (taz) – Es gab 1987 offenbar doch keine Explosion in der Atomfabrik Nukem in Hanau. Trotzdem ging damals nicht alles mit rechten Dingen zu: Bei Nukem wurde jahrelang „leichtfertig“ mit radioaktiven Stoffen umgegangen. Opfer waren (und sind noch) die Beschäftigten. Viele sind inzwischen an Krebs gestorben oder zumindest erkrankt. Oder sie leiden an anderen Folgekrankheiten. Grund dafür: Die Grenzwerte für die Raumluftaktivität wurden bei Nukem regelmäßig überschritten und damit auch die Grenzwerte für die so genannten Dosiswerte der Beschäftigten.
Das sind die Ergebnisse monatelanger Recherchearbeit der Experten aus dem Öko-Institut in Darmstadt. Im vergangenen Jahr waren sie vom Hessischen Umweltministerium – das damals noch unter grüner Leitung war – beauftragt worden herauszufinden, was in der Hanauer Anlage wirklich passiert ist: Andere (private) Gutachter von der ARGE PhAM waren im Sommer 1998 zu dem Schluss gekommen, dass im Januar 1987 bei Nukem „ein Explosionsereignis“ stattgefunden haben müsse. Dabei soll das Dach des Produktionsgebäudes zerstört worden sein. Bewiesen war aber lediglich, dass die Dosimeter von mehr als 300 Beschäftigten in diesem Monat weit über ein durchschnittliches und mit einem reibungslosen Ablauf nicht erklärbaren Maß hinaus belastet worden waren.
Keine Explosion, aber wohl doch einen „Störfall“ soll es damals gegeben haben, so die alternativen Wissenschaftler um Michael Sailer in ihrem Gutachten, das auch dem neuen hessischen Umweltminister Wilhelm Dietzel (CDU) vorliegt. Diesen Störfall habe Nukem der Atomaufsichtsbehörde verschwiegen.
Im Klartext: Bei Nukem wurden Menschen über Jahre hinweg einer erhöhten Strahlenbelastung ausgesetzt, ohne dass sie das wussten. Und es hat so genannte Einzelereignisse gegeben, bei denen Beschäftigte direkt schwer kontaminiert wurden. „Es hat mehr als zehn Jahre gedauert, bis sich die Verhältnisse endlich änderten“, schreiben die Experten des Öko-Instituts.
Bei einem anderen Störfall, der sich im Jahre 1979 ereignet hat, und bei dem möglicherweise 20 Menschen kontaminiert wurden, musste Nukem nach mehr als 15 Jahren des Schweigens zugeben, dass wenigstens ein Mitarbeiter mit dem „28fachen der zulässigen Lebenszeitdosis“ verstrahlt worden war. Da war dieser „eine Mitarbeiter“, Franz Ferstl, gerade gestorben – an einer multiplen Krebserkrankung. Diese sei „mit großer Wahrscheinlichkeit durch extrem hohe Strahlenbelastungen in den Jahren 1975 und 1979“ verursacht worden, so unabhängige anerkannte Gutachter nach der Untersuchung von Gewebeproben des Verstorbenen. Die Folge: Die Krebserkankung von Ferstl wurde posthum von der Berufsgenosseenschaft der chemischen Industrie als Berufskrankheit anerkannt. Es war der erste Anerkennungsfall.
Von dem bisschen Rente hat die Witwe von Ferstl, der bei Nukem in einer Abteilung arbeitete, in der Uranhexafluorid in Uranmetall umgewandelt wurde, allerdings nicht allzu lange zehren können. Lili Loesche-Ferstl verstarb vier Jahre nach ihrem Mann. An Krebs.
Und offenbar gab es noch mehr solcher „verschwiegenen“ Störfälle bei Nukem. Unklar ist jedoch, wie viele. Den von 1975, bei dem Ferstl seine erste Überdosis abbekommen haben soll, hat Nukem bis heute nicht bestätigt. Mindestens acht ehemalige Beschäftigte von Nukem seien inzwischen wie Ferstl an Krebs verstorben, mutmaßte Der Spiegel schon Ende 1997. Die Familien schweigen. Wie viele Opfer der gesamte, inzwischen zerschlagene Hanau-Komplex, der mit Akem, Nukem und RBU einmal das deutsche Tokaimura war, noch fordern wird, ist (noch) nicht bekannt.
„Die Spitze eines Eisberges“ sei dieser eine anerkannte Fall Ferstl gewesen, glaubt Eduard Bernhard vom Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU), der zwanzig Jahre lang den Widerstand gegen den Hanau-Komplex mit organisierte und sich mit Einzelschicksalen von Arbeitern beschäftigte – etwa mit dem Tod des türkischen Leiharbeiters Necati Demirci. Dieser starb 1995 mit nur 48 Jahren in Istanbul an Lungenkrebs. Zwischen 1983 und 1986 war Demirci als Hilfsarbeiter bei Nukem und Alkem beschäftigt und danach als Mitglied einer Putzkolonne im atomaren Forschungslabor der Firma Siemens im bayerischen Karlstein, gegenüber von Hanau auf der anderen Mainseite. Zwei Jahre später erkrankte er an Lungenkrebs. Folge der Arbeit bei Nukem, bedingt durch den jetzt gutachterlich festgestellten „leichtfertigen Umgang mit radioaktiven Stoffen dort“? Oder direkte Folge eines bestimmten Störfalls in der Anlage in Karlstein, bei dem Demirci mit dem hochgiftigen Americium in Berührung gekommen war? Demirci hatte geklagt. Doch das zuständige Gericht in Aschaffenburg sah „keinen hinreichenden Verdacht“ für einen Zusammenhang zwischen der Berufstätigkeit des Türken und seiner Krebserkrankung. Schließlich sei Demirci auch starker Raucher. So gab es kein Schmerzensgeld und keine Invalidenrente – trotz nachgereichtem Gutachten des Marburger Strahlenschutzprofesssors Horst Kuni und der Bremer Physikerin Schmitz-Feuerhake.
Den Mut, auf seinen „Fall“ aufmerksam zu machen, hat inzwischen auch ein ehemaliger Leiharbeiter, der bei der Reaktor Brennelementeunion (RBU) eingesetzt war, gefunden. Der Süddeutschen Zeitung schilderte der 47 Jahre alte Michael Weber kürzlich seine Geschichte. Bei einem Störfall 1971, den der nur kurz angelernte Leiharbeiter des Zeitarbeitsunternehmens Manpower selbst verursacht hatte, war er von feingemahlenem Uran eingestäubt worden. Die Folge: keine medizinische Untersuchung, aber fristlose Entlassung. Weber zog seinen Overall aus und ging nach Hause. Zehn Jahre später war er ein unheilbar kranker Mann: schwere Lungenfunktionsstörungen, Blutzellenschwund, Herzprobleme, Stauung der Leber, der Milz und der Nieren. Erst nach jahrelangem Kampf erfolgte die Anerkennung. Die diversen Krankheiten, so die Berufsgenossenschaft nach der Vorlage wissenschaftlicher Gutachten durch Weber, seien „direkte Folgen“ des Unfalls im Brennelementewerk.
Siemens als Rechtsnachfolger von RBU sieht das bis heute anders. Anspruch auf Schadenersatz habe Weber nicht. Denn die Frage nach der Kausalität des Unfalls könne durchaus „wissenschaftlich unterschiedlich beurteilt werden“.
Der BBU hat jetzt Bundesumweltminister Jürgen Trittin (Grüne) aufgefordert, ehemalige Beschäftigte in allen Atomanlagen zu ihren Gesundheitszustand befragen und die Todesursachen der bereits Verstorbenen eruieren zu lassen. Nur so könne das ganze Ausmaß der Folgeschäden individueller Arbeit in Atomkraftwerken und -fabriken offengelegt werden.
Speziell zu Hanau müsse der Hessische Landtag einen Untersuchungsausschuss einsetzen, sagte Eduard Bernhard (BBU). Die umweltpolitische Sprecherin der Grünen im Hessischen Landtag, Ursula Hammann, erinnerte daran, dass die Uranschmiede Nukem derzeit – genehmigungspflichtig – abgerissen werde und dass dabei die Prüfung der Zuverlässigkeit der Betreiber eine nicht unwesentliche Rolle spiele. Nach dem Gutachten des Öko-Instituts bestünden an dieser vom Atomgesetz geforderten „Zuverlässigkeit“ doch „erhebliche Zweifel“. Das sieht offenbar auch Umweltminister Dietzel (CDU) so ähnlich. Bei wenigstens zwei Managern der Nukem, die heute „im Solarenergiegeschäft“ tätig ist, müsse diese „Zuverlässigkeit“ erst überprüft werden, erklärte er.
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