: Ein verlorenes Paradies
Silvester soll es alle Welt wissen: Neuseeland ist am schönsten ■ Von Christian Holtorf
Die Generalprobe für eine der aufwendigsten Millenniumsfeiern der Welt ist misslungen: Das neuseeländische Gisborne musste wegen starkem Wind ohne Feuerwerk ins letzte Jahr des 20. Jahrhunderts kommen. Die Menge auf der Straße rings um die überdimensionale Millenniumsuhr verlor die gute Stimmung dennoch nicht, denn die gehört in der 30.000-Einwohner-Stadt dazu, seit sie große Pläne für 2000 hegt. Gisborne, dicht an der Datumsgrenze gelegen, nennt sich „östlichste Stadt der Welt“ und will Kapital daraus schlagen. Am 1. Januar 2000 soll von hier aus der erste Sonnenaufgang des dritten Jahrtausends live in alle Welt übertragen werden.
Nach dem – dann hoffentlich geglückten – Silvesterfeuerwerk werden ein paar tausend Besucher um 5.45 Uhr zum Sonnenaufgang am Strand erwartet. 10.000 Christen sollen sich etwas später auf einem Aussichtspunkt über der Stadt zum Gottesdienst versammeln. Über 30.000 Menschen könnten am Abend die Party mit dem millenniumswürdigen Namen „Ende der Odyssee“ besuchen. Insgesamt sollen bis zu 180.000 Touristen innerhalb von drei Wochen in die abgelegene Stadt kommen – so viele wie sonst in neun Jahren. Um diesen Ansturm bewältigen zu können, wurde sogar der örtliche Flughafen eigens um 140 Meter verlängert.
Der Traum von der Insel des Glücks
Nicht nur für Gisborne, für ganz Neuseeland ist das Millennium eine Identitätsfrage. 1769 hatte James Cook das Land zum ersten Mal betreten und gleichermaßen für die britische Krone, die Wissenschaft und das Christentum in Besitz genommen. Es schien ein Traum von einer Insel zu sein: zwar nicht der gesuchte große Südkontinent, der die nördlichen Kontinente im Gleichgewicht zu halten vermöchte, aber wohl ein ausgemachtes Refugium für Sammler seltener Arten, Glückssucher und andere Missionare. Und dabei ist es geblieben: Neuseeland hält sich heute noch für Paradies und gelobtes Land in einem, für den realexistierenden Himmel auf Erden. Die Nachricht von solcher Art glücklichem Ausgang des abendländischen Zuges durch die Wüste zu verbreiten hat sich die neuseeländische Tourismuswirtschaft zur Jahrtausendwende erneut auf die Fahnen geschrieben.
Neuseeland (3,3 Millionen Einwohner und 65 Millionen Schafe) braucht diese Aufmerksamkeit. Es ist, als ob die 2000-Vision von Zukunft, neuem Menschen und besserem Leben in Neuseeland zu Hause ist. An die Jahrtausendwende haben die „Kiwis“ sowohl ihr Herz als auch handfeste Wirtschaftsinteressen gehängt. Im zehnten Stock des Innenministeriums, mitten in der Hauptstadt Wellington, hat das Millennium Office ein paar Räume bezogen, um Sponsoren zu werben und die über das Land verteilten Feiern zu koordinieren. Endlich, stöhnt Ministerpräsidentin Jenny Shipley, könnten die Neuseeländer der versammelten Weltgemeinde zeigen, wer sie seien und wozu sie in der Lage wären. Endlich ist Neuseeland wieder da, wo es immer schon am liebsten war: dem Rest der Welt um einen Tag voraus.
Neuseeland, nach 1840 das Ziel zehntausender Emigranten aus dem krisengeschüttelten frühindustrialisierten England, versprach jedermann ein Haus, ein Stück Land und ein eigenes Pferd. Das Klima milde, die Natur reich, die Maori-Ureinwohner friedlich – hier sollte sich die Geschichte im reinen Glück vollenden dürfen. Wie gern würde sich das Land heute wieder in diesem Licht sonnen! Gäbe es nur nicht die Europäische Gemeinschaft, die der früheren Kolonie keine Absatzgarantien für neuseeländische Exporte mehr gibt wie einst Großbritannien. Und hätten die ersten Pioniere nicht 97 Prozent der Urwälder gerodet, um mit dem Holz der seltenen Kauri-Fichten in Europa Geld zu machen. Auf dem übrig gebliebenen Grünland ließen sie die mitgebrachten Schafe und Kühe weiden, die so prächtig gediehen wie der Ruf vom leicht verdienten Geld. Die nächsten Einwanderer kamen mit den Goldfunden in den 1860er-Jahren und stampften neue Städte aus dem Boden, die den Mythos vom Glanz der goldenen Zukunft weiter am Leben erhielten. Banken, Investoren, Abenteurer: Sie alle machten sich glauben, das Glück in Neuseeland in Händen halten zu können. Einst hatte sich sogar die Landschaftsmalerei in den Dienst der Neuen Welt stellen lassen und sich auf die Wiedergabe idyllischer Ideallandschaften spezialisiert.
Die Schlagseiten des Glücks
Doch Milch und Honig solcher Art haben aufgehört zu fließen. Die neuseeländische Natur ist durch Eingriffe des Menschen vielfach bedroht und muss streng geschützt werden: Die Urwälder sind abgeholzt, die heimische Flora und Fauna ist vom Aussterben bedroht, viele importierte Parasiten wie vor allem die Opossums vermehren sich ohne ihre natürlichen Feinde ungehemmt. Stärker als andere Länder ist Neuseeland auch vom Ozonloch über der Antarktis betroffen, das die Blätter der Pflanzen und die menschliche Haut in kurzer Zeit vom Sonnenlicht verbrennen lässt.
Das Land war mit sich selber nie versöhnt, sondern hat inbrünstig den Brudermord gepflegt. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die Maori erfolgreich missioniert, in der zweiten Hälfte wurden sie brutal um ihr Land betrogen. Schon immer bei Gewalt und Totschlag gut vertreten, belegt Neuseeland heute weltweit den dritten Platz bei den Kapitalverbrechen Mord, Raubmord und Vergewaltigung. Laut Unicef-Bericht hat das Land die höchste Selbstmordrate von Jugendlichen in der gesamten westlichen Welt, Tendenz steigend. Arbeits- und Perspektivlosigkeit sind nach wie vor groß, nicht zuletzt weil die Erwartungen hoch sind und das Vermögen, Fehler zu erkennen und Kritik einzustecken, begrenzt ist. Auch die in den 80er-Jahren erfolgten radikalen Staatsreformen, die die Eingriffe in den Markt ebenso wie das Sozialsystem drastisch reduziert haben, haben daran nichts ändern können.
Ein Faible aber eint die Neuseeländer. Wahrscheinlich nirgendwo sonst auf der Welt sind zur Jahrtausendwende so viele Wettrennen angesetzt wie im Heimatland des Bungee-Springens: World-Offshore -Powerboat-Meisterschaften, Single-Handed Round the World, Yacht-Rennen, Marathonlauf, America's-Cup-Segelregatta, First Light Triathlon, Battle-of-the-Streets-Motorradrennen ... Nur die Ersten, die Schnellsten und Mutigsten stoßen ins neue Millennium vor – und wer wäre schneller als die Neuseeländer? Sie rannten schon immer am schnellsten, sie rannten der Armut davon, der Geschichte und der Erinnerung. Neuseelands Ehrgeiz, zuerst im dritten Jahrtausend anzukommen, ist durchaus zweifelhaft. Was, wenn die Computer doch ausfallen? Was, wenn die Feierlichkeiten schieflaufen? Was, wenn man sich blamiert? Im letzten Jahr kam es bei mehreren Silvesterfeiern zu Ausschreitungen von Jugendlichen und Missachtung des aus guten Gründen erlassenen Alkoholverbots. Die Angst ist gewachsen, dass es im nächsten Jahr vor den Kameras aus aller Welt zu einer Wiederholung kommen könnte. Die Medien warnen vor Illusionen. Das Land ist vorne dran, auch bei Katastrophen.
Das „Pech“ mit der Geschichte begleitet Neuseeland seit Anbeginn und ist auch an Gisborne nicht vorbeigegangen. Die Original-Schiffskanone von Cooks Schiff „Endeavour“, die der Stadt zum 200. Jahrestag der Entdeckung des Landes geschenkt wurde, erwies sich als die achte von sieben Kanonen. Auch die Bronzestatue von Cook, die am Schauplatz des großen Gottesdienstes am Neujahrsmorgen noch über Gisborne steht, zeigte so wenig Ähnlichkeit mit anderen Abbildungen des Kapitäns, dass weitere Untersuchungen angestellt wurden, die ergaben, dass auch die Uniform nicht die der britischen Marine jener Zeit ist. Beide Devotionalien der glorifizierten Entdeckungsgeschichte wurden aus dem touristischen Rampenlicht entfernt.
Ehrlicherweise wird an Ort und Stelle auf die Irrtümer hingewiesen. An der Tafel neben der Cook-Statue steht zu lesen, dass diese Figur zwar jeden Historiker in Verlegenheit brächte, aber eine Freude für alle Fotografen bliebe. Und so ist es mit dem ganzen Land: Neuseeland ist ein einziger Mythos, der von einem Volk handelt, das glaubt, das Gelobte Land erreichen zu können, ohne vorher das Paradies verlassen zu müssen. Das Blitzlichtgewitter im Jahr 2000 wird diese Wahrheit nur noch sichtbarer machen: Neuseeland kann geradezu paradiesisch schön sein, doch es war von Anfang an ein verlorenes Paradies.
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