piwik no script img

Reparaturen sämtlicher Systeme

■ Bröckelnde Fassaden: Harald Hauswald hat das letzte Jahrzehnt der DDR fotografiert. Sein Bildband „Seitenwechsel“ zeigt auch, wie danach dann alles anders wurde. Fast alles

Nur wenn ich träume, bin ich frei.“ Dieses Zitat machte in der DDR die Runde, obwohl eigentlich niemand so recht wusste, von wem es stammt. Die paar Wörter sagen trotzdem mehr über die DDR als alle Erklärungsversuche, die man sich heute so ausdenkt. Sie tauchten in Poesiealben und auf Wänden auf, und ein Rockmusiker schrieb sich den Spruch sogar auf seinen Rücken: Harald Hauswald hat die Szene 1983 fotografiert, sie findet sich in seinem gerade erschienenen Bildband „Seitenwechsel“.

Das große Erinnern ist angesagt. „Was die DDR war, darüber nimmt der Streit nicht ab, sondern zu“, schreibt Wolfgang Thierse im Vorwort. Da hat er Recht. Erinnerung schönt oder trübt die Vergangenheit – je nachdem, ob der Seitenwechsel in die neue Gesellschaft geglückt ist oder nicht. Fotos auf jeden Fall können helfen, sich die Vergangenheit ins Gedächtnis zurückzurufen.

Harald Hauswald hat ein Gespür für Momentaufnahmen. Seine Fotos, die im letzten DDR-Jahrzehnt und nach dem Fall der Mauer entstanden, zeigen die 80er-Jahre als eine Zeit des Verfalls und der Stagnation. Egal ob es sich dabei um abgestellte Transparente für die Demonstration zum 1. Mai handelt, bröckelnde Fassaden, das Wort „Wut“ an einer Wand in Dresden-Neustadt oder um Kindergartenkinder, die 1982 in Berlin-Marzahn zwischen grauen Plattenbauten spazierten.

Mit ethnologischem Blick und Sinn fürs Normale hat Hauswald den Alltag, fern von Staatspropaganda, eingefangen. Der war oft skurril: In einem Spirituosengeschäft liegt neben Wodka und Zigarren ein Plakat in der Auslage, das die Jugend unter Hinweis auf Marx aufruft, sich zu „bewähren“. Doch die Jugend, das zeigt Hauswald, bewährte sich nur zum Schein, trug Fackeln im blauen Einheitslook, um danach die entindividualisierende Kluft auszuziehen und sich ihre Nischen zu suchen: Punkkonzerte, Saufgelage, Tanzkurse oder die Szene in Prenzlauer Berg. „Reparaturen sämtl. Systeme“ warb eine Tafel eines Nähmaschinengeschäftes, den Sozialismus konnte niemand flicken. „Wir sind umgezogen! Nach gegenüber“, konnte man deshalb an den Häusern lesen: „Nach gegenüber“ war das Synonym für „Ausreise“. Ausreisen muss heute niemand mehr. Der Seitenwechsel kam über Nacht. Harald Hauswald, Mitbegründer der Fotografenagentur Ostkreuz, fotografierte seit 1989 ganz andere Demonstrationen, den Austausch von Symbolen und Slogans: bei der Räumung der Mainzer Straße zum Beispiel, Umzugswagen, und statt Punks immer öfter Hooligans. Alles ist eben anders geworden. Fast alles. „Die DDR war eben nicht nichts“, schreibt Wolfgang Thierse, „sondern gelebtes Leben.“ Andreas Hergeth ‚/B‘Harald Hauswald: „Seitenwechsel“. Aufbau, Berlin 1999, 151 Seiten, 131 Abb., 49,90 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen