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Die Anwesenheit von Abwesenheit

■ Der Schauspieler Michael Degen las aus seinem Buch „Nicht alle waren Mörder“

Diese Lesung fand in ziemlich gedrückter Stimmung statt – der SFB verstaute gerade seine Kameras, die vom Gedenken an die Pogromnacht 1938 berichtet hatten. Und Polizisten waren sehr auffällig damit beschäftigt, möglichst unauffällig das Gebäude davor zu beschützen, dass einige Deutsche hier ihr ganz spezielles Nationalfest feiern wollen. Der Weg zur Lesung fiel also nicht leicht. Und das, was der Schauspieler Michael Degen in seiner Autobiografie verarbeitet hat, ist auch kein leichtfüßiger Stoff.

Degen lebte in den Jahren 1933 bis1945 in Berlin – obwohl er, den „Rassegesetzen“ nach, Jude war. Degen und seine Mutter waren gezwungen, illegal zu leben, ohne Einkünfte, mit gefälschtem Ausweis. Dass sie überleben konnten, verdanken sie nicht zuletzt einigen wenigen aufrechten Menschen, die sie versteckt hielten oder ihnen Lebensmittel zukommen ließen. Degen schuldet diesen Menschen Dank, weswegen er seine Autobiografie „Nicht alle waren Mörder“ genannt hat. Doch während sein zum Springer-Konzern gehöriger Econ-Verlag auf dem Buchdeckel eine Art Oskar-Schindler-Story verspricht, liegt es Degen fern, die Deutschen generell vom Goldhagen-Vorwurf zu entlasten. Er demonstriert vielmehr, wie schwer es den wenigen Vernunftbegabten fiel, sich gegen die vielen Befehlsempfänger und Denunzianten zu wehren.

Und so las Degen mit fast übermenschlicher Ruhe von Freunden, von denen er sich auf der Straße trennte und dann nie wiedersah, von dem Keil, den der ständige Druck zwischen ihn und seine Mutter trieb. Weil Degen ein guter Schauspieler ist, stockte seine Stimme nur einmal. Ansonsten brachte er die Zuhörer sogar zum Lachen. Etwa wenn er erzählte, dass die Nazis aus Angst vor Hühnerflöhen das Gefieder der Tiere mit Kämmen anhoben. Oder wenn er vor ihnen Hühnergänse als das Produkt von „Rassenschande“ bezeichnete. Das ließ für Augenblicke vergessen, dass Degen von Situationen berichtete, in denen er permanent von nichts weniger als dem Tod bedroht war.

Nach der Lesung verließ Degen das Podium auffällig rasch. Spätestens als man vor die Tür des Jüdischen Gemeindehauses trat und den Vertretern der Berliner Polizei wieder bei ihrer Demonstration von Abwesenheit zusah, wusste man warum. Jörg Sundermeier

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