piwik no script img

Nahaufnahme aus der Distanz

In Italien wird zum achten Mal der Mordprozess gegen drei Mitglieder der linksradikalen Organisation Lotta continua aufgerollt. Die tödlichen Schüsse auf Polizeikommissar Luigi Calabresi 1972 wurden zu einem Schlüsselereignis in Italiens „bleiernen Jahren“. Seit 1988 beschäftigt das juristisch umstrittene Verfahren die italienische Öffentlichkeit. Und niemand hat sich so intensiv an der politischen Geschichte abgearbeitet wie einer der Angeklagten: Adriano Sofri. Ein Portrait von Friederike Hausmann

Obwohl in dem seit dem 20. Oktober wieder aufgerollten Verfahren um den Mord an dem Polizeikommissar Luigi Calabresi im Jahre 1972 drei Angeklagte vor Gericht stehen, gilt der Prozess weit über Italien hinaus lediglich als der „Fall Sofri“. Diese scheinbar paradoxe Fokussierung auf die Person Sofris hat jedoch in mehrfacher Hinsicht ihre Berechtigung. Er war der unangefochtene Protagonist von „Lotta continua“ (LC), der alle drei Angeklagten und der Kronzeuge selbst angehört hatten. Der Mord an Calabresi war mehr als nur irgendein Mord, sondern eines der Schlüsselereignisse der „bleiernen Jahre“ Italiens, die auf die kurze Euphorie von 1968/69 folgten. Insofern repräsentiert „der Fall Sofri“ ein wesentliches Stück italienischer Zeitgeschichte und zugleich die mühsame Auseinandersetzung damit.

Dieser Aufgabe hat sich Sofri auf eine sehr eigene Art gestellt und ist in dieser neuen Rolle wiederum, wie in den Zeiten von LC, zu einer in der Öffentlichkeit heiß umstrittenen Person geworden, eine Rolle, die er heute wie damals durchaus genießt. Adriano Sofri und seine Freunde hießen bei LC einfach „die Pisaner“. Das war mehr als eine bloße Herkunftsbezeichnung. Gemeint war damit die verschworene Gruppe um die 1967 gegründete Zeitschrift Potere operaio (“Arbeitermacht“), die aus der Studentenbewegung einer der angesehensten Universitäten Italiens, der Scuola Normale di Pisa, hervorgegangen war.

Legendär war Sofris Wortgefecht an der „Normale“ mit dem Vorsitzenden der Kommunistischen Partei, Palmiro Togliatti, anlässlich eines Vortrags über die Resistenza im März 1963. Während des Krieges, als er von Moskau aus den Widerstand gegen den Faschismus und dann gegen die deutsche Besatzung in Italien organisierte, hatte Togliatti den Beinamen il Migliore (“der Beste“) getragen, und als solcher wurde er von den Mitgliedern seiner Partei, der mitgliederstärksten und einflussreichsten Kommunistischen Partei Westeuropas, weiterhin verehrt. Ihm warf Sofri vor, durch Kompromisspolitik die Revolution verspielt und die Massen in die Irre geführt zu haben. Vollkommen fassungslos über so viel Unverschämtheit antwortete Togliatti: „Du musst noch wachsen, Junge. Versuch du mal, die Revolution zu machen.“ Worauf Sofri selbstbewusst versicherte: „Das werde ich tun, ganz bestimmt.“

In diesen Worten war der Kern der italienischen Studentenbewegung formuliert. Der Aufstand gegen die Vätergeneration hieß in Italien Kampf gegen die Kommunistische Partei, gegen ihren Mythos der Resistenza, gegen ihre Doppelbödigkeit, mit der sie in Worten die Revolution predigte, in Taten aber höchstens Reformen forderte. Weil die Revolution jedoch kaum an der tyrrhenischen Küste zwischen Luxusbädern und mittelalterlichen Städten zu machen war, ging Sofri nach ersten Erfahrungen mit Potere operaio nach Turin. Er traf damit eine „historische“ Entscheidung, denn er wählte nicht Mailand, die moderne Finanzmetropole mit ihrem diffusen Hinterland, sondern Turin, die Stadt Antonio Gramscis, des Gründers der KP Italiens, die Hochburg der antifaschistischen Bourgeoisie, vor allem aber die Stadt der Fiat, Symbol des italienischen Kapitalismus.

Fiat besaß Ende der Sechzigerjahre die größte Fabrikanlage Europas, größer als das Volkswagenwerk in Wolfsburg. Allein Mirafiori, eines der drei Turiner Werke, war eine täglich von 55.000 Menschen bevölkerte Stadt in der Stadt. Das Wirtschaftswunder der Fünfzigerjahre hatte tausende von Immigranten aus dem bäuerlichen Süden nach Turin gespült, wo sie sich mit der Anonymität der grauen Arbeiterviertel, der ungewohnten Fabrikdisziplin und den ständig steigenden Arbeitsrhythmen konfrontiert sahen. Diese jungen Immigranten waren empfänglich für die Parolen der Studenten, die vor die Werkstore zogen.

Hier entstand im Sommer 1969 „Lotta continua“, nicht wie so viele aus der Studentenbewegung hervorgegangene Gruppierungen als marxistisch-leninistische Kaderpartei, sondern als lockere Gruppierung um die gleichnamige Zeitung. Eigentlich war LC nichts anderes als ein Zusammenschluss charismatischer Führer der Studentenbewegung, und ihr unbestrittener Star war Sofri. Er vermochte vor den Werkstoren und in den Arbeiterstudentenversammlungen am genauesten den richtigen Ton zu treffen, er ging mit den Arbeitern ins Kino, in die Bar, spielte mit ihnen Karten oder Tischfußball. In den Erinnerungen der Mitstreiter taucht am häufigsten das Wort seduzione auf, eines, das zwischen „Verführung“ und „Anziehungskraft“ schillert.

LC trug die Kampfformen der Studentenbewegung in die Fabrik. Der so genannte fabrikinterne Demozug wurde zu einem Dauerzustand, und im „heißen Herbst“ des Jahres 1969 erkämpften sich die Arbeiter neue Formen der Arbeitervertretung und wesentliche Arbeitsverbesserungen. Am Ende des Jahres 1969 verzeichnete Fiat einen Verlust von zwanzig Millionen Arbeitsstunden durch Streik und ein Minus von 277.000 Autos. Die Einfuhr ausländischer Kraftfahrzeuge stieg um 37 Prozent.

Doch das Jahr 1969 endete mit dem Bombenattentat vom 12. Dezember 1969 an der Piazza Fontana in Mailand. Sofri bezeichnete es später als den „Verlust der Unschuld“, als ein Erwachen aus dem naiven Glauben an überschaubare und geregelte Formen der Auseinandersetzung, an einen grundlegenden Respekt vor dem Menschenleben, auch auf der Seite des Gegners. Seit Piazza Fontana stellte sich die Frage der Gewalt, aber dieser Frage wich LC aus. Obwohl die Auseinandersetzungen auf den Straßen unter der neuen Parole „Nehmen wir uns die Stadt!“ härter wurden, es immer öfter Tote und Verletzte gab, blieb die Frage der Gewalt ein Tabu und wurde mit Formulierungen wie „Volksgewalt“ und „proletarische Gewalt“ eher verschleiert als geklärt.

Der Mord an einem Fiatangestellten in Argentinien, der Tod des Polizisten Annaruma während einer Demonstration und die Schüsse auf den Polizeikommissar Calabresi wurden gleichermaßen mit Befriedigung als „Akt, in dem die Ausgebeuteten ihren Gerechtigkeitswillen erkennen“, registriert, wie Sofri 1972 in Lotta Continua schrieb. Seitdem war die Auseinandersetzung über die Frage der Gewalt nicht mehr zu unterdrücken, doch die Organisation zerbrach daran. Der Versuch, das Ruder herumzureißen und LC in eine Partei zu verwandeln, die sich an Wahlen beteiligte, endete kläglich. Auf dem Parteitag von Rimini 1976 wurde „die alte Garde“ als Bourgeoisie beschimpft, und LC löste sich stillschweigend selbst auf.

Sofri beschrieb diese Erfahrung später wie das Ergebnis einer durchzechten Nacht „mit furchtbarem Kopfweh, einem Gefühl der Scham, Selbstmordgedanken, Schwere in den Gliedern und einem eisernen Ring um den Kopf“. Um diesen Kater zu kurieren, zog er sich in sein Haus in der Toskana zurück. Obwohl LC als Zeitung noch bis 1980 weiterbestand, kehrte er nicht mehr zurück, sondern arbeitete bei anderen Presseorganen und ging später als Berichterstatter nach Exjugoslawien und Tschetschenien.

Ohne die Selbstanzeige Leonardo Marinos hätte Sofri wohl einfach wie viele seiner ehemaligen Mitstreiter, die die Redaktionen italienischer Medien bevölkern, zu den angesehenen Journalisten seines Landes gezählt. Durch den Prozess aber wurden er und seine Mitangeklagten zu einer öffentlichen Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit gezwungen. Auf der juristischen Ebene reagierten alle drei Angeklagten in derselben Weise. Sie haben stets ihre Unschuld beteuert, sich jedoch der Justiz gestellt, mit allen juristischen Mitteln und zugleich durch die Mobilisierung der Öffentlichkeit gekämpft, schließlich aber auch ihre Gefängnisstrafe angetreten. Giorgio Pietrostefani kam deshalb sogar freiwillig aus Paris zurück, wo er an einer 1974 von einem flüchtigen LC-Mitglied gegründeten Sprachenschule unterrichtete.

Adriano Sofri aber ging noch weiter. In zahllosen Artikeln, in einer geradezu zwanghaften Schreibwut, ließ er die Öffentlichkeit an den gewundenen Wegen seiner kritischen Selbstbefragung teilnehmen. Aus unterschiedlichsten Perspektiven kreiste er immer wieder um die Frage, was von seiner Vergangenheit und der seiner Generation trotz des Scheiterns der „pfeilschnellen Gedanken“ der Revolution, trotz des scheinbar unvermeidlichen Weges in die Gewalt zu retten war.

Er benutzte dafür die Metapher vom „Knoten und dem Nagel“, wie eine Sammlung seiner Reflexionen betitelt ist (deutsch im Eichborn Verlag, 1998).

Bei dieser mühsamen Suche förderte Sofri scheinbar unpolitische Ergebnisse zutage, Erinnerungen an Momente der Nähe, der Phantasie, des Zuhörens, aufmerksamen Lesens und der Liebe zu der „Familie“, die LC gewesen war, zu den Kindern, „die mit uns auf den Demonstrationen aufgewachsen sind, denen wir uns mitgeteilt haben, und die jetzt für uns eintreten und uns unterstützen“.

Vieles erinnert an die Gefängnisbriefe Antonio Gramscis, dessen Spuren Sofri nach Turin gefolgt war. Auch in Gramscis Briefen heißt es immer wieder: „Ich habe gelernt, geduldig zu sein.“ Einen der intensivsten, auf Deutsch in diesem Jahr in der Sammlung „Nahaufnahmen“ (Transitverlag) enthaltenen Texte widmet Sofri dem Gründer der Kommunistischen Partei Italiens. Darin spricht er sicher auch für sich selbst, wenn er feststellt, „wie tiefgreifend die erzwungene Veränderung war, eine Veränderung, die nicht bloß die politische Linie, sondern das Leben, die ganze Philosophie des Lebens betrifft – eine Besinnung auf die Zeit vor der Politik, die Zeit des Studiums, der Verheißungen, als alles noch offen war und das Leben einen ganz anderen Verlauf hätte nehmen können“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen