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Im Haus der Seelsorger

Standort Deutschland (6): Kirchturmspitzen so weit man blickt. Noch heute lebt Hildesheim von der Christianisierung: Die katholische Kirche ist einer der größten Arbeitgeber der Stadt mit 263,7 Millionen Mark Umsatz – und den Touristen gefällt es auch  ■   Von Thomas Sakschewski

Sein spartanisch eingerichtetes Büro hat Hans Peter Bruntz mit einem Plakat geschmückt. Sitzt der Diakon im bischöflichen Dienst an seinem ordentlich aufgeräumten Holzschreibtisch, blicken alle Kardinäle in Passbildgröße auf ihn hinab. Das Plakat sieht aus wie die Fahndungsanschläge, die jahrzehntelang vor dem Schusswaffengebrauch der RAF warnten.

Das Büro des Diakons liegt im zweiten Stock des bischöflichen Generalvikariats gegenüber dem Hildesheimer Dom. In den Domhof kann Hans Peter Bruntz von seinem Fenster aus nicht blicken, doch auch ohne Dom vermag der Diakon von hier aus die Kirchturmspitzen zu zählen. Hildesheim ohne seine Kirchen, das wäre wie Hannover ohne seine Messe. Eine halbe Stunde Auto- oder Bahnfahrt ist die Bischofsstadt von der niedersächsischen Landeshauptstadt entfernt. Als Verwaltungssitz des Landkreises Hildesheim gilt die Stadt mit ihren etwas über 100.000 Einwohnern, doch bedeutend ist Hildesheim eher als geistliches Zentrum eines Bistums so groß wie das Königreich Belgien. So wie sich König Albert II. gern dem Volk zeigt, so paradiert auch seine Exzellenz hin und wieder über den Domhof. „Wenn zum Beispiel an den hohen Feiertagen das Pontifikalamt, also der feierliche bischöfliche Gottesdienst, stattfindet und die Domherren in ihren roten Talaren über den Domhof laufen, dann denke ich jedesmal, so ein Anblick ist kaum in einer anderen Stadt, geschweige denn überhaupt in Norddeutschland vorstellbar und denkbar“, schwärmt Hans Peter Bruntz von den Riten und Ritualen in der Bischofsstadt Hildesheim.

Kirchen sind die Orientierungspunkte innerhalb der überschaubaren, von einem grünen Wall umgebenen Innenstadt. Die Andreaskirche, die Lambertikirche, die Michaeliskirche, die St.-Godehard-Kirche und wie sie alle heißen. Über Jahrhunderte haben Orden und Bruderschaften Gotteshaus um Gotteshaus in Sichtnähe zum Dom erbaut. Dom und Michaeliskirche, um 1.000 nach Christi erbaut, wurden 1985 als Weltkulturerbe unter Unesco-Schutz gestellt. Kirche, Klerus und christliche Tradition sind im Stadtbild präsent wie in keiner anderen norddeutschen Stadt, erzählt der Diakon im bischöflichen Generalvikariat. „Wir haben allein im Innenstadtbereich ein Dutzend Kirchen, das heißt alle paar hundert Meter haben wir eine Kirche; selbstverständlich nur die mitgezählt, die intakt sind.“

Der Domhof, auf einer Anhöhe gelegen und mit einer Mauer vom modernen Hildesheim getrennt, ist der Firmensitz des Bistums, denn mit fast 400 Mitarbeitern ist die katholische Kirche einer der größten Arbeitgeber der Stadt. 263,7 Millionen Mark hat das kirchliche Unternehmen im letzten Jahr umgesetzt. Von hier aus wird die Arbeit in den 365 Gemeinden des Bistums koordiniert. Hier steht auch der Server der elektronischen Kirche, der das Internetangebot des Bistums mit einem virtuellen „Haus der Seelsorger“ ins World Wide Web stellt. Im Bischöflichen Generalvikariat wird das wöchentlich erscheinende Mitteilungsblatt des Bistums hergestellt und vertrieben. Die Kirchenzeitung,KIZ abgekürzt, ist mit einer Auflage von 25.000 Exemplaren die einzige regionale Alternative zur Hildesheimer Allgemeinen Zeitung, der ältesten Tageszeitung Deutschlands.

Seit der Reformation ist Hildesheim eigentlich eine protestantische Stadt. Zwei Drittel der Christen sind evangelisch, nur ein Drittel katholisch. Mit einer Superintendentur hat die evangelische Landeskirche ein Äquivalent zum katholischen Bischofssitz geschaffen. Politische Entscheidungen im Stadtrat werden nicht nur nach Parteizugehörigkeit getroffen, ist immer wieder zu hören. Spätestens wenn der Finanzausschuss tage, komme es vor, dass konfessionelle Zugehörigkeit den Fraktionszwang breche. Ob man das Josephinum, das katholische Gymnasium, oder das evangelische Andreanum besucht habe, könne da schnell zur Grundsatzfrage werden.

Pfarrer Winfried Henze steht der katholischen St.-Godehard-Gemeinde vor. „In Hildesheim, da lebt die Geschichte“, sagt der Pfarrer und lobt zwar die Einrichtungen der evangelischen Kirche, besteht jedoch darauf, dass Hildesheim von seiner katholischen Geschichte geprägt ist: „Man kann die Stadt überhaupt nicht verstehen, wenn man nicht weit zurück denkt in ihre Gründungszeit Anfang des 9. Jahrhunderts.“

Die St.-Godehard-Kirche, eine benedektinische Klosterkirche aus dem 12. Jahrhundert, ist zweihundert Meter oder zwei Kirchturmspitzen vom Dom entfernt. Angesichts solcher Monumente und so viel Geschichtsbewusstsein nimmt es nicht wunder, dass Pfarrer Winfried Henze auch kein rechtes Beispiel einfallen will, wie sich kirchliche Traditionen im Hildesheimer Alltag widerspiegeln. „Manchmal zeigt sich an Kleinigkeiten das Weiterleben der Geschichte, wenn der örtliche Schützenverein mit seinen schönen, großartigen Uniformen bei feierlichen Anlässen den Bischof begleitet, weil das eine Tradition ist seit dem 14. Jahrhundert. Obwohl viele davon gar nicht katholisch sind, leisten sie diesen Ehrendienst für den Bischof von Hildesheim auch heute noch. Man darf freilich nicht sagen, dass das nur Tradition wäre. Also man merkt in Hildesheim schon, dass hier Sonntag ist und dass viele Leute zum Gottesdienst gehen.“

Traditionspflege kann in einer Stadt, deren Gründungslegende um einen Rosenstock im Kreuzgang des Doms rankt, kaum überraschen. Solange der tausendjährige Rosenstock wachse und gedeihe, werde auch Hildesheim nicht untergehen, denn der „Rosenstrauch ist das Wahrzeichen und das Lebenssymbol der Stadt“, so Stadtführerin Melsene Meyer. Im Jahr 815 habe Ludwig der Fromme eine Mutter-Gottes-Reliquie an einem Rosenstrauch vergessen, so die Überlieferung. Am darauf folgenden Tag soll die Reliquie von Rosenzweigen umwuchert gewesen sein. Der fromme Ludwig, auf dem Weg zur Christianisierung des heidnischen Ostens, sah das als ein Zeichen Gottes und gründete an dieser Stelle das Bistum Hildesheim. Und wenn im Juni der tausendjährige Rosenstock blüht, dann wird dies mit einem großen Fest gefeiert.

Dabei ist der etwas mickrige Rosenstrauch im Innenhof eine schlichte Feld-, Wald- und Heckenrose, botanisch eine Rosa carnina. Ein passendes Wahrzeichen für die Stadt Hildesheim ist die gemeine Heckenrose allemal. Genau genommen ist der tausendjährige Rosenstock nicht einmal 1.000 Jahre alt, allenfalls 54. An den Zweigen wurden kleine Emailleschilder mit den Jahreszahlen der Triebe angebracht. Das älteste Schild weist auf das Jahr 1945 hin. Damals überlebten die Wurzeln des Rosenstocks einen schweren Luftangriff der Briten und Amerikaner, der den Dom und große Teile der Innenstadt, darunter den Marktplatz, in Schutt und Asche legte. Die vormals 1.500 Fachwerkhäuser gingen in Flammen auf. In den ersten Nachkriegsjahren wurde der mittelalterliche Marktplatz radikal vergrößert und mit modernen Zweckbauten umstellt. Für geschichtsbewusste Hildesheimer war dies eine nur schwer hinzunehmende Tatsache.

Der heute neunzigjährige Architekt August Steinborn gehörte zu den Gegnern des modernen Wiederaufbaus am Hildesheimer Marktplatz. Steinborn, aus dessen Feder viele Häuser in Hildesheim stammen, hat „als Jüngling“, wie er sagt, „unter dem Steuern des Knochenhaueramtshauses auf dem Marktplatz gesessen und gezeichnet“. 1986 wurden der Hildesheimer Marktplatz ein zweites Mal dem Erdboden gleichgemacht. Dem Abriss gingen jahrzehntelange Proteste gegen die modernen Funktionsgebäude am historischen Standort voraus. Das Gildehaus der Knochenhauer, ein Fachwerkgebäude mit prunkvollem Schnitzwerk aus dem 16. Jahrhundert, steht heute wieder, wo es immer stand, eine Kopie, originalgetreu bis zu den Holznägeln. August Steinborn, der bis Kriegsende im Büro von Wilhelm Kreis Denkmäler für die siegreiche deutsche Wehrmacht gezeichnet hatte, kann sich heute noch ereifern, wenn es um den Hildesheimer Marktplatz geht. „Es ist nach meiner Ansicht richtig, dass es so gemacht worden ist, dass das Alte wieder da ist, und wenn es eine Kopie ist. Die Leute kommen und mögen das. In hundert Jahren ist das sowieso keine Kopie mehr. Da ist das das Alte. So war es schon immer.“

Und Recht hat er, wie Stefanie Krause vom Stadtmuseum, untergebracht im Knochenhaueramtshaus, erzählen kann. „Wenn ich jetzt so als Privatperson unten auf dem Marktplatz stehe und manchmal die Gespräche höre, dann höre ich oft: 'Ach wie schön, dass hier alles stehen geblieben ist.‘ Erst wenn sich die Touristen näher umschauen, und es sind ja überall auch Informationstafeln angebracht, dann erst erwächst das Bewusstsein, dass hier etwas nicht original ist, sondern rekonstruiert wurde.“ Hinter den historischen Marktplatzfassaden verbergen sich moderne Verwaltungsgebäude. Die Illusion ist perfekt, wenn per Knopfdruck abends die Fenster illuminiert werden und eine mittelalterlich-romantische Atmosphäre entsteht.

Den ersten Teil des Marktplatzes, das Knochenhaueramtshaus, kann man jetzt auch als Modellbausatz kaufen, im Maßstab HO. Die Musealisierung der Hildesheimer Innenstadt hat sich als Magnet für den Tourismus herausgestellt, denn die „Leute kommen und mögen es“. Die Fußgängerzone ist neu gepflastert worden und soll nun den Eindruck einer Dorfstraße mit einer Fahrbahn in Kutschenbreite erwecken, obwohl die Häuser alle städtisch sind. Gesäumt wird die Fußgängerzone allerdings von ausdruckslosen, dreigeschossigen Gebäuden. Hier dominieren Gleichförmigkeit und Mittelmaß, wie anderswo auch: „Deichmann Schuhe“, „New Yorker“, „Nordsee-Grill“.

Ein paar hundert Meter weiter ist dann Schluss mit der Musealisierung. Ein Fußgängertunnel trennt die Südstadt von der Nordstadt. Die Unterführung in die Nordstadt ist nicht mit historisch anmutendem Kopfstein gepflastert. In die Nordstadt führt ein von ausgetrocknetem Kaugummi übersäter Asphalt. Südlich das bürgerliche, das alteingesessene, nördlich – Richtung Bahnhof – das andere, das ärmlichere Hildesheim. Statt „Deichmann Schuhe“ Schuh-Discounter, statt „Nordsee-Grill“ Gyros-Imbiss. Hinter den Bahngleisen ist der Wohnraum in den Arbeiterhäusern aus der Jahrhundertwende preiswert. Und herüber in die Südstadt muss man auch nicht, denn der „Einbecker Zapfhahn“ bietet Bier und Korn zum halben Preis. Gegenüber der kleinen Kneipe, deren Atmosphäre sich auf eine braune Schicht aus Nikotin an den Wänden und Arbeitslosigkeit auf den Barhockern beschränkt, liegt die Moschee des islamischen Kulturvereins. Pfarrer Henze von der katholischen Gemeinde im Süden kennt sie nur vom Hörensagen. „Ich wüsste gar nicht, dass es so etwas gibt. Eine richtige, wirklich organisierte muslimische Gemeinde. Dass es in der Nordstadt irgendwo auf dem Hof so etwas wie eine Moschee gibt, davon habe ich auch schon gehört, aber wie viel da dran ist und wieweit das wirklich genutzt wird, das weiß ich nicht.“

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