Die Alten kleben am Mandat“

■ Parteienforscherin Ingrid Reichart-Dreyer: Die CDU hat Glück gehabt. Dank guter Wahlergebnisse sitzen CDU-Nachwuchskräfte im Parlament

taz: Die Berliner Parteien haben ein Nachwuchsproblem. Im neugewählten Parlament sind nur elf Abgeordnete unter 30 – allesamt Mitglieder von CDU und PDS. Bei der SPD sieht es besonders schlecht aus: Nur sechs Abgeordnete sind jünger als 40. Wie kann eine Partei eine solche Lücke wieder füllen?

Ingrid Reichart-Dreyer: Indem sie von den Wählern ganz viele Stimmen bekommt, denn das ist ja das Erfolgsrezept der CDU: Die Partei hat ja durch ihre enormen Wahlsiege 1990 und auch 1999 Kandidaten ins Abgeordnetenhaus bekommen, die auf Listenplätzen standen, denen man keine Chance einräumte. Viele, die jetzt drin sind, auch junge und neue Kräfte, die fühlten sich nach der Kandidatenaufstellung abgestraft. Wichtig war allerdings auch die Logik des Berliner Wahlsystems mit Ausgleich- und Überhangmandaten, von denen die CDU profitiert hat.

Aber wenn die SPD allein auf Wähler wartet, dürfte es mit ihr noch weiter bergab gehen ...

Die SPD sitzt, auch was die Jungen angeht, in einem Kreislauf nach unten: Weil sie wenig junge Leute hat, kriegt sie auch weniger Stimmen aus dieser Generation.

Wie kann sie diesen Kreislauf durchbrechen?

Eine Möglichkeit ist die Selbstbindung, wie es die SPD zum Beispiel in den Bezirken Wilmersdorf und Zehlendorf durch eine Amtszeitbegrenzung für ihre Abgeordneten auf drei Legislaturperioden getan hat. Die Verkrustung kommt ja zustande, weil die Bezirke sowohl die Listen als auch die Direktkandidaten für das Abgeordnetenhaus benennen können. Damit entscheidet ein kleiner Kreis von Menschen, wer künftig im Parlament sein soll. Dabei haben die, die drin sind, einen Vorsprung und wollen ihn behalten.

Das Problem ist also nicht, dass es keinen Nachwuchs gibt, sondern dass der keine Chance bekommt?

Ja, es gibt ein natürliches Beharrungsvermögen der Abgeordneten. Irgendwann entsteht bei ihnen der Konflikt zwischen dem Eigeninteresse und dem theoretischen Interesse, dass ein Parlament Erneuerung braucht. Denn die meisten Abgeordneten müssen eine erhebliche Schlechterstellung in Kauf nehmen, wenn sie kein Mandat mehr haben. Deshalb verteidigen sie es mit allen Mitteln. Hinzu kommt, dass die Mehrheiten in Organisationseinheiten von über 1.000 Mitgliedern starr sind.

Im Ostteil der Stadt sind die Kreisverbände aber kleiner. Ist es da anders?

Ja, sowohl bei SPD als auch CDU. Beide Parteien haben dort viel weniger Mitglieder. Bei einem Kreisverband von 100 oder 200 Mitgliedern aber kann man mit einem Trupp von Schulfreunden eine Mehrheit verändern.

Was könnte die SPD sonst noch tun?

Man könnte ihr zum Beispiel eine Neuenquote wie die der Grünen empfehlen. Die haben trotz des Verlusts von acht Mandaten eine Erneuerungsquote von 42,8 Prozent. Nachteil ist aber, dass die Prominenten zwar geblieben sind, andere aber, die noch nicht so lange dabei sind, aber gute Arbeit machen, rausgefallen sind.

Welche Konsequenzen hat eine solche Generationslücke auf einzelne Themenfelder?

Schon seit Mitte der 80er-Jahre gilt, dass die geringe Zahl der Jungen dazu geführt hat, dass Schul- und Jugendpolitik nachrangige Themen waren.

Gehören solche Generationslücken zu den normalen Entwicklungsphasen von Parteien oder ist das jetzt eine einmalige Situation?

Nein, das ist keine einmalige Situation. Der große Veränderungsruck in der Berliner CDU hat in den Jahren 70 bis 75 stattgefunden. In dieser Zeit ist die Zahl der Mitglieder wieder von 8.000 auf 13.000 gestiegen. Fast alles, was heute in der Berliner CDU-Führung ist, ist 1975 oder spätestens 79 ins Parlament gekommen. Diese Gruppe ist seit 20 Jahren in der CDU dominant. Die Jahrgänge danach, besonders die, die in den 50er-Jahren geboren sind, hatten keine Chance. Inzwischen aber sind diese Saurier abgenutzt.

Interview: Sabine am Orde
‚/B‘ Die Parteienforscherin Ingrid Reichart-Dreyer ist Privatdozentin an der FU und untersucht derzeit, wie Wähler und Parteien auf die Zusammensetzung des Berliner Abgeordnetenhauses Einfluss nehmen. Darüber wird sie heute abend um 19 Uhr 30 in der Konrad -Adenauer-Stiftung in der Tiergartenstr. 35 einen Vortrag halten.