: Universalbeilage Bratkartoffel
Pferdewetten können viel Geld bringen. Sie machen aber auch süchtig, erkannte ■ Christoph Ruf
Der Eintritt zur Bahrenfelder Trabrennbahn ist frei. Die weitläufige, ovale Bahn wird an der einen Geraden vom Volkspark, auf der anderen von einer Tribüne begrenzt. In deren Inneren stehen an Renntagen etwa hundert Menschen an Stehtischen oder vor den Renn-Monitoren. Die doppelte Anzahl an Tippern hat sich in den zweiten Stock begeben, um die Läufe von oben zu beobachten. Wer will, kann sich nach Entrichtung von drei Mark am Platz bedienen lassen und muss sich lediglich zur Abgabe der Tippscheine erheben. Es dominiert Kleinbürgertum.
Ich bleibe im Parterre und schaue mich um: Menschen mittleren bis reiferen Alters, überproportional viele Männer. Die Gespräche kreisen um Alltägliches; es wird viel gelacht. Zum Essen wird Hausmannskost gereicht: Bratkartoffeln als Universalbeilage, dazu Frikadellen, Eisbein, Würstchen oder Fischbrötchen.
Draußen beobachten derweil etwa hundert Kiebitze die zehn Pferde, die sich mitsamt Jockeys auf den Start zum dritten Rennen vorbereiten. Die Pferde, die hin und wieder außer Tritt geraten, streiche ich von meiner Favoritenliste. Wie die Umstehenden – offenbar Dauergäste – zu ihren fachkundigen Urteilen kommen, ist mir schleierhaft. Warum das eine Pferd „gut in Form“, das andere „schon optisch daneben“ sein soll, erschließt sich mir nicht. Offensichtlich bin ich hier fehl am Platze, von Inkompetenz geschlagen dazu verdammt, mein gesamtes mitgebrachtes Vermögen – 23,70 Mark – der Fachwelt vor die Füße zu werfen.
Wie gut, daß ich geschulte Begleitung dabei habe: „Ich erkläre dir jetzt erst mal das Wettsystem“, höre ich, „alles gar nicht so kompliziert. Kauf–dir doch erst einmal die Rennzeitung.“ Der Schlüsel zur Erlangung einer Minimalkompetenz kostet in Bahrenfeld 4 Mark und heißt „Starter“. Das Programmheft bietet Informationen zu den heutigen zwölf Rennen. Die Klasse jedes startenden Pferdes wird kurz kommentiert: So liefert mir das Blatt, als ich mich wagemutig im sechsten Rennen entscheide, beim nächsten mal mitzuwetten, auch einen Kommentar zu „Bergerac“. Da ich in der gleichnamigen südwestfranzösischen Stadt vergangenen Sommer hervorragend gespeist hatte, war meine Wahl gleich auf das Pferd mit der Startnummer Sieben gefallen. Gut zu wissen, dass mein Favorit „bei seinem letzten Start einem Erfolgspferd ein totes Rennen abrang“. Ich meine zu verstehen, daß es sich hierbei um ein durchaus positives Urteil handelt und sehe mich in meiner Wahl bestärkt.
Mit möglichst gelangweiltem Blick kreuze ich „Siegwette“, „Startnummer Sieben“ und „Einsatz: Zwei Mark 50“ an. Doch bevor ich den Schein abgeben kann, tritt meine Begleitung wieder auf den Plan: „Schau doch erst mal auf die Quote, Du Rind!“. Wie mir geheißen, wandert mein Blick zur Anzeigetafel vor der Tribüne. Dort rotieren die Ziffern. Je wahrscheinlicher der Sieg eines Pferdes ist, desto niedriger der potentielle Gewinn. Hinter „Bergeracs“ Startnummer 7 leuchtet eine 17. Das heißt 17 Mark auf 10 Mark Einsatz. Dass das Pferd gute Siegchancen hat, scheint jeder verstanden zu haben, denn dass so viele die südfranzösische Küche einem Eisbein vorziehen, scheidet nach einem Blick in die Runde definitiv aus.
Bei der schlechten Quote lohnt sich mein Tipp überhaupt nicht. Popelige 4,25 Mark genügen mir schon lange nicht mehr. Ich will–s jetzt wissen. „Dreierwette“ verkünde ich mit angestrengtem Blick und plaziere, nachdem meine Begleitung mir das Ausfüllen des Tippscheines abgenommen hat, die beiden Pferde mit den jeweils nächstbesten Quoten auf Platz zwei und drei. „Start frei zum siebten Rennen“, sagt der Sprecher und rattert in atemberraubendem Tempo den Rennverlauf herunter: “Bergerac vor Famous Boy, innen greift How Bizarre an, Famous Boy übernimmt die Führung, wird von Bergerac eingeholt, et cetera.“
Da ich mir nur Startnummern, aber keine Pferdenamen gemerkt habe, bekomme ich nur ein diffuses Gefühl von Spannung mit: Doch schließlich prangen meine Zahlen auf der Anzeigentafel: 7 vor 5 vor 3. „Wußt–ich es doch“ suggeriert mein Blick. Tatsächlich zahlt mir der Mensch am Tippschalter anstandslos 127 Mark fünfzig auf meinen Einsatz aus. Darauf ein Holsten Pilsener und dann schnell weg. Schließlich könnte mich jemand als das entlarven, was ich bin: Ein komplett Ahnungsloser. In einer Woche sehen wir uns wieder.
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