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Berlin war das Vorbild

Vor neunzig Jahren wurde Tel Aviv gegründet. Auf den sandigen Dünen am Rande des östlichen Mittelmeers entstand eine vollkommen neuzeitliche Stadt, an deren Aufbau Architekten aus Deutschland einen entscheidenden Anteil hatten. Israel entdeckt sein reiches Bauhauserbe Von Ralf Balke

Tausend weiße Villen tauchten auf, leuchteten aus dem Grün üppiger Gärten heraus. Von Akko bis an den Carmel schien da ein großer Garten angelegt zu sein, und der Berg selbst war gekrönt mit schimmernden Bauten.“ Mit diesen Worten umschrieb 1902 Theodor Herzl, Vordenker des politischen Zionismus, seine Vision eines jüdischen Palästinas.

Doch genauso wenig wie das Leben im heutigen Israel etwas mit jener behaglichen Wiener Kaffeehausatmosphäre gemein hat, die Herzl in den Orient „umzutopfen“ plante, gleicht der visuelle Eindruck der Architektur des Landes einem Beverly Hills in der Levante. Die nüchternen Realitäten beim Aufbau des jüdischen Staates ließen wenig Spielraum für idyllische Utopien. Ein Dach über dem Kopf für die Millionen von Einwanderern hatte einfach einen deutlich höheren Stellenwert als Ästhetik. Ein Umstand, der gerade in den Jahren nach der Staatsgründung 1948 das Bild israelischer Städte prägen sollte und so manche architektonische Monstrosität hinterließ, die einen noch heute erschaudern lässt.

Doch neben unzähligen Bausünden aus den Nachkriegsjahrzehnten finden sich in Israel auch Zeugnisse des Besten, was moderne Baukunst zu bieten hat. Gerade in Deutschland ausgebildete Architekten hatten daran seit den Kindertagen des Zionismus einen entscheidenden Anteil. Sie waren es, die im britisch verwalteten Palästina und dem späteren Israel der architektonischen Moderne wie in kaum einem anderen Land zum Durchbruch verhalfen. Das Gebäude der Knesset etwa, des israelischen Parlaments, basiert auf Entwürfen des an der Technischen Hochschule in München ausgebildeten und lange Jahre in Hamburg tätig gewesenen Architekten Joseph Klarwein.

Wenn als Folge des 1994 in Tel Aviv stattgefundenen Bauhauskongresses große Teile des Stadtzentrums von der Unesco zum kulturellen Erbe der Menschheit erklärt wurden, dann ist dies auch eine späte Würdigung all jener Baumeister, die entweder als enthusiastische Zionisten in den zwanziger Jahren nach Palästina eingewandert waren oder, durch die Rassegesetzgebung im Dritten Reich all ihrer beruflichen Perspektiven beraubt, Deutschland gezwungenermaßen verlassen hatten und sich mangels Alternativen dort ansiedelten. Im Palästina der britischen Mandatszeit zählte man mehr als 130 tätige Architekten, die an einer deutschen Hochschule ihre Ausbildung erhalten hatten.

„Urvater“ aller dieser Architekten war Alex Baerwald aus Berlin. 1909 kam Baerwald in das damals noch osmanische Palästina, wo er in Haifa die Pläne für das spätere Technion, Israels international renommierte Forschungsschmiede, entwarf. Stilistisch pflegte Baerwald eine interessante Mischung aus orientalischen und deutschen Bauelementen. Auf Rundbögen setzte er Giebeldächer mit Ziegeln, das Ganze umschrieb er als ein „Zusammenwirken morgenländischer Bauweise mit den Errungenschaften deutscher Technik“.

In den Zwanzigerjahren hatte sich Deutschland zum Geburtsort einer modernen Architektur entwickelt, die, von der Lehre des Funktionalismus beherrscht, völlig neue Wege beschritt. Eine ganze Generation junger jüdischer Architekten aus Mittel- und Osteuropa wurde von den Impulsen inspiriert, die vom Bauhaus in Dessau ausgingen. Die israelische Architekturforscherin Myra Warhaftig erklärt dieses Phänomen damit, dass die traditionellen Ausdrucksformen in der Baukunst oftmals Assoziationen mit antisemitischen Einstellungen weckten, während die neue, auf klare Linien und Sachlichkeit ausgerichtete Architektursprache des Bauhaus die Schaffung einer grundlegend anderen und besseren Welt versprach. Die Handschrift des Bauhauses, die wegen der vielfältigen Herkunft ihrer Vertreter auch „Internationaler Stil“ gennnt wird, verkörperte eine Art „Architektur der Hoffnung“. Für den sowjetischen Schriftsteller Ilja Ehrenburg war nach einem Besuch in Dessau klar, dass hier zum ersten Mal „die Welt einen Kult schlichter Vernunft erblickt hat“.

Den Nazis hingegen galten die Konzeptionen des Bauhauses als Ausgeburt eines „jüdischen Kulturbolschewismus“. Besonders die im Stile der neuen Sachlichkeit errichtete Weißendorfsiedlung in Stuttgart erregte ihren Unmut. Um den „undeutschen“ Charakter des weltweit hochgelobten Projekts zu betonen, bevölkerten ihre Propagandisten das Ganze auf Propagandabildern mit Orientalen und Kamelen. So nahm 1933 die Entwicklung der modernen Architektur in Deutschland ein abruptes Ende, um – Ironie der Geschichte – genau dort, wo es Orientalen und Kamele zuhauf gab, neue Wurzeln zu schlagen. Die vom Bauhaus ins Leben gerufene neue Sachlichkeit mit ihren von horizontalen Fensterbändern gegliederten Baukörpern, ihren streng geometrischen Grundformen und den Glas- oder Terrassendächern wurden den klimatischen Bedingungen in Palästina angepasst und entwickelten hier eine eigene Formensprache. Auf Ornamentik oder monumentale Protzigkeit verzichtete man ganz bewusst. Typisch für die Adaption an lokale Gegenheiten: Die Häuser wurden auf Säulen, sogenannten Pilotis, gebaut, um auf diese Weise für eine regelmäßige Durchlüftung der Stadt zu sorgen. Sonst übliche großzügige Fensterfronten wurden wegen der intensiven Sonneneinstrahlung verkleinert.

Das vor neunzig Jahren in den Sanddünen nördlich vor Jaffa gegründete Tel Aviv sollte zum Experimentierfeld der Bauhausjünger werden. War Tel Aviv in den Zwanzigerjahren nach den Worten eines Besuchers nur ein „Ort, der Stadt zu sein vorgibt“, so erlebte es in den Dreißigerjahren einen Boom, der zur Herausforderung für Stadtplaner und Architekten wurde. Die Einwohnerschaft der ersten „hebräischen Stadt“ verdreifachte sich in kürzester Zeit auf 150.000.

Praktische und billige Lösungsansätze waren gefragt. Beispielhaft die Arbeitersiedlung Meonot Ovdim des sozial engagierten Bauhausschülers Arieh Sharon, die er in Anlehnung an das Dessauer Studentenwohnheim konzipiert hatte. Oder sein Kollege Carl Rubin, der rund achtzig Projekte in Palästina verwirklichen konnte, unter anderem mehrere Häuser am Rothschild-Boulevard, deren Wohnräume allesamt Zugänge zu Balkons erhielten – was angesichts der in Tel Aviv vorherrschenden Temperaturen von den Bewohnern dankbar aufgenommen wurde.

Lotte Cohn, eine der wenigen Architektinnen ihrer Zeit, warnte ihre Kollegen vor Einfamilienhäusern nach deutschem Muster, da diese zu einer „bürgerlichen Lebensweise“ verführen könnten. „Für viele war Berlin das Vorbild“, so Myra Warhaftig. Vielleicht ist Heimweh nach der Großstadt auch der Grund dafür gewesen, den damals wie heute chaotischen innerstädtischen Verkehrsknotenpunkt Magen-David-Platz mit der Allenby-Straße, der von einigen Paradebeispielen der Bauhausarchitektur flankiert wird, unter Einwanderern aus Deutschland „unseren“ Potsdamer Platz zu nennen. Vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges galt Tel Aviv wegen seiner konsequenten Bauhausbebauung als eine der modernsten Städte der Welt, als „weiße Stadt“ am Rande des östlichen Mittelmeers.

Heute ist davon wenig zu spüren. Die horrende Luftverschmutzung und die Luftfeuchtigkeit haben den Gebäuden zugesetzt und lassen alles einheitlich grau-bräunlich erscheinen. Auch war den meisten Bewohnern lange nicht bewusst, in welch architektonischen Schmuckstücken sie leben. Klimaanlagen an den Fassaden, zugemauerte Balkone oder nachträglich aufgestockte Etagen mindern den optischen Reiz vieler Gebäude.

Die zentrale Lage der meisten Grundstücke, auf denen sie sich befinden, verführte zusätzlich dazu, durch den Abriss und die Umwandlung in einen Parkplatz die schnelle Mark zu machen. Erst in diesem Jahrzehnt begann man allmählich, so etwas wie ein Bewusstsein für Denkmalschutz in Tel Aviv zu entwickeln. Kein leichtes Unterfangen in einer Stadt, die stolz darauf ist, dass sie, wie der Werbeslogan es verspricht, „keine Pause macht“, und wo das Konservieren der Vergangenheit eigentlich nie auf der Tagesordnung stand.

Rund 3.500 Häuser gilt es, vor der Abrissbirne zu bewahren. Wenn man bedenkt, dass aufgrund begrenzter öffentlicher Mittel nur rund fünfzig pro Jahr restauriert werden, kann man sich leicht ausrechnen, dass ein Großteil dieser architektonischen Kostbarkeiten im Wettrennen gegen den Zahn der Zeit unwiederbringlich verloren zu gehen droht.

Doch es funktioniert auch anders. Das Café „A Propos“ am Ben-Gurion-Boulevard, ein tipptopp restauriertes Gebäude im reinsten Bauhaus, hat sich gerade aufgrund seiner architektonischen Schönheit zu einem beliebten Treffpunkt entwickelt. Auch ziehen viele der im Wirtschaftsboom der letzten Jahre reich gewordene Yuppies mittlerweile gerne in Häuser im Bauhausstil. Erkennen Tourismusexperten und Investoren erst den Wert dieser Häuser, lassen sich gewiss mehr als jährlich fünfzig vor der Abrissbirne retten.

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